Charlie sperrte den Kasten ab und schob ihn in sein Fach im Tresor. Ihr war elend zumute, aber wenigstens war sie jetzt der Wahrheit über ihren Mann auf der Spur.
Für sie blieb nur noch eine Frage: Was hatte Eric bei Biosyn gestohlen? Und es schien nur eine Antwort drauf zu geben: Nichts.
Er hatte Geld - vielleicht eine Anzahlung - für etwas genommen, was er zu liefern versprochen hatte. Aber er hatte nicht geliefert, und deshalb war er gestorben. Nach seinem Tod hatte man in ihrem Haus eingebrochen, in der Hoffnung, das Präparat zu finden, und das bedeutete Gefahr für sie, solange die Leute, die bezahlt hatten, die versprochene Substanz nicht in Händen hielten. Charlie war sich im Klaren darüber, dass sie an das Mittel herankommen und es aushändigen musste, wenn sie ihre eigene Sicherheit gewährleisten wollte. Da das jedoch unmöglich war, konnte sie nur versuchen, die Leute ausfindig zu machen, die bezahlt hatten, um ihnen ihr Geld zurückzugeben.
Sharon Pasternak schien ihr als Informationsquelle am ehesten geeignet zu sein. Sie war die Erste gewesen, die sich für Erics Arbeitszimmer interessiert hatte. Und nach der unerwarteten Entdeckung des Geldes war Charlie klar, dass es naiv von ihr wäre, zu glauben, Sharon hätte nach irgendetwas gesucht, dasnicht mit dem Geld im Schließfach zu tun hatte.
Sie verließ die Bank und fuhr in Richtung Freeway.
Die Firma Biosyn hatte ihren Sitz an einem Stück des Highways, das »der Ortega« genannt wurde und, über das Küstengebirge führend, das spießige Städtchen Lake Elsinore mit dem schickeren San Juan Capistrano verband. Es war eine staubige Straße, die an Sonntagen die Radfahrer zu Tausenden anlockte. Während der Woche verkehrten auf der baumlosen Durchgangsstraße vor allem Pendler, die in den Restaurants und teuren Hotels an der Küste arbeiteten.
Das Pharmaunternehmen lag ungefähr zwanzig Kilometer weit in den Bergen, ein hässlicher niedriger Bau von schmutzigbrauner Farbe, der durch einen hohen, von Stacheldraht gekrönten Maschendrahtzaun von seiner Umwelt abgegrenzt war. Charlie war nie vorher bei Biosyn gewesen und hätte die Abzweigung übersehen, hätte sie nicht wegen eines FedEx-Lieferwagens abbremsen müssen, der, aus der versteckt liegenden Zufahrt zu Biosyn kommend, rasant auf den Highway hinausschoss.
Ein merkwürdiger Standort für ein Pharmaunternehmen, dachte Charlie, als sie in die schmale Einfahrt einbog. Für jede Firma ein merkwürdiger Standort. Die meisten Industriebetriebe waren kilometerweit entfernt in hässlichen Gewerbegebieten zusammengeballt, die sich wie faule Zähne an den vielen Freeways des Bezirks aneinander reihten.
Ungefähr fünfzig Meter die Einfahrt hinauf befanden sich ein Wachhäuschen und ein eisernes Tor, das allen unangemeldeten Besuchern die Zufahrt verwehrte. Charlie hielt an und nannte neben ihrem eigenen Namen den Namen Sharon Pasternak. Sie wartete nervös eine Minute, während der Wächter in dem weitläufigen Gebäude anrief, das auf dem Hügel vor ihr lag. Vielleicht war der Name Sharon Pasternak ja erfunden, gut vorstellbar, wenn die Frau an Erics heimlichem Geschäft beteiligt war.
Aber so war es offenbar nicht. Der Wachmann kam mit einem Passierschein zu Charlies Wagen und sagte:
»Sie erwartet Sie im Foyer. Parken Sie auf dem Besucherparkplatz und gehen Sie direkt rein, okay? Wandern Sie nicht hier herum.«
Was, um alles in der Welt, sollte sie locken, hier
herumzuwandern?, fragte sich Charlie, als sie den
Passierschein entgegennahm. Das ganze Gelände war nichts als eine Felsenwüste, in der nur Kakteen und dorniger kalifornischer Chaparral wuchsen.
Sie hielt vor dem Haupteingang des Gebäudes an und ging hinein. Es war unangenehm kühl, und sie fröstelte. Einen Moment lang sah sie gar nichts, geblendet vom Gegensatz zwischen dem grellen Licht draußen und den dunkel gestrichenen Wänden hier drinnen.
»Ja?«, sagte jemand aus einer düsteren Ecke. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Ehe Charlie sich an das dämmrige Licht gewöhnen konnte, hörte sie von der anderen Seite des Raums noch eine Stimme. »Sie möchte zu mir, Marion. Die Dame ist Eric Lawtons Frau.«
»Mr. Lawtons -? Oh! Tut mir schrecklich Leid. Wie geht es Ihnen. Mein Beileid, Mrs. Lawton. Er war - ein so netter Mann.«
»Danke, Marion. Mrs. Lawton?«
Jetzt endlich konnte Charlie ihre Umgebung deutlich erkennen: die weißhaarige Frau hinter einem mahagonibraunen Empfangstresen und, vom Spiegel dahinter wiedergegeben, Sharon Pasternak, die gerade durch eine massive Stahltür in den Empfangsraum herausgekommen war. Sie trug einen weißen Laborkittel über schwarzen Leggings, Nike-Laufschuhe und Tennissöckchen.
Sie trat an Charlies Seite und legte ihr die Hand auf den Arm. »Haben Sie die Unterlagen, mit denen wir gearbeitet haben, tatsächlich gefunden?«, fragte sie, den Blick beinahe beschwörend auf Charlie gerichtet. »Sie retten mir das Leben, wenn Sie ja sagen.« Dabei drückte sie Charlies Arm. Es fühlte sich an wie eine Warnung, darum nickte Charlie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Toll!«, sagte Sharon. »Das ist wirklich eine Erleichterung. Kommen Sie mit nach hinten.«
»Sie ist nicht zugelassen, Dr. Pasternak«, protestierte Marion.
»Das geht schon in Ordnung, Mar. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir setzen uns in die Kaffeebar.«
»Dr. Cabot wird -«
»Schon gut«, sagte Sharon. »Wir brauchen höchstens fünf Minuten. Sie können ja die Zeit stoppen.«
Sharon führte Charlie durch das Foyer, aber nicht zu der Stahltür, durch die sie herausgekommen war, sondern zu einer weniger gesicherten Tür, durch die sie in eine Art Kantine gelangten, die um diese Tageszeit völlig leer war. Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte sie ohne Umschweife: »Sie haben es rausbekommen. Es hat wohl jemand bei Ihnen angerufen? Hat der Betreffende einen Namen hinterlassen? Oder eine Nummer, wo ich anrufen kann?«
»Es hat jemand bei mireingebrochen«, korrigierte Charlie, »und mein Haus verwüstet, nachdem Sie da gewesen waren.«
»Was?!« Sharon sah sich hastig um. »Das ist ernst. Dann können wir uns hier nicht unterhalten. Hier haben die Wände Ohren. Wenn Sie mir den Namen nennen, nehme ich selbst Kontakt auf. Das hätte Eric so gewollt.«
»Ich habe keinen Namen.« Charlie war sehr heiß. Ihre Verwirrung wuchs mit jedem Wort. »Ich dachte,Sie hätten ihn. Sie waren im Haus und sind gegangen, ohne irgendetwas mitzunehmen; als danach das Haus erneut durchsucht wurde, nahm ich an . Was haben Sie eigentlich gesucht? Wessen Name ist das, der Sie interessiert? Das Einzige, was ich habe, ist das . « Sie brachte es nicht über sich, es auszusprechen, so entsetzlich und charakterlos erschien es ihr, dass ihr Mann - ein Mensch, den sie tief geliebt und zu kennen geglaubt hatte - seinen Arbeitgeber bestohlen hatte. »Ich möchte das Geld zurückgeben«, stieß sie schnell hervor, ehe ihr eine Entschuldigung dafür einfallen konnte, nichts zu sagen.
»Was für Geld?«, fragte Sharon.
»Ich muss es zurückgeben. Diese Leute werden nicht locker lassen, wenn ich es nicht tue. Wer auch immer es ist. Sie haben das Haus schon einmal auseinander genommen und werden wieder kommen. Ich weiß es. Niemand bezahlt so eine Riesenmenge Geld, ohne den Erhalt der - wie sollen wir es nennen? - derWare zu erwarten.«
»Aber so läuft das doch gar nicht«, entgegnete Sharon. »Sie bezahlennie. Wenn da also irgendwo Geld herumliegt -«
»Wer sindsie?« Charlie hörte selbst, wie mit zunehmender Angst ihre Stimme lauter wurde. »Wie setze ich mich mit ihnen in Verbindung?«
»Schschsch!«, machte Sharon. »Bitte! Wir können hier nicht sprechen.«