»Was fehlt dir denn?«, fragte er. War das Furcht in seiner Stimme gewesen und nicht Besorgnis, wie sie damals geglaubt hatte. »Char, was ist los?«
»Ach, mir tut alles weh«, antwortete sie. »Ich bin gestern zu viel gelaufen. Und Kopfweh habe ich auch.«
»Ich mach dir einen Teller Suppe«, sagte er.
Sie hörte ihn in der Küche rumoren. Zehn Minuten später kam er mit einem Tablett wieder ins Wohnzimmer.
»Das ist lieb«, murmelte sie. »Aber ich kann aufstehen. Ich kann mit dir zusammen essen.«
»Ich esse nicht«, sagte er. »Jedenfalls jetzt nicht. Bleib liegen.« Behutsam und liebevoll fütterte er sie geduldig Löffel um Löffel mit der Suppe. Er tupfte ihr sogar den Mund mit einer Papierserviette ab. Und als sie lachte und sagte: »Also, wirklich, Eric, ich bin kerngesund«, antwortete er nicht.
Weil er es gewusst hat, dachte Charlie jetzt. Der Prozess hatte begonnen. Zuerst Kopf- und Muskel schmerzen, begleitet von erhöhter Temperatur. Danach Schüttelfrost und Appetitlosigkeit.
Und weiter? Das, was sie für körperliche Manifestierungen zuerst der Trauer und dann der Verleugnung gehalten hatte: Halsschmerzen, Schwindelgefühl, Übelkeit, Erbrechen. Aber sie hatte nicht auf den Tod ihres Mannes reagiert. Sie hatte auf das reagiert, was er zu seinen Lebzeiten getan hatte. Oder was er hatte tun wollen und getan hätte, wenn sie nicht die Flasche mit dem Virus zerbrochen hätte, bevor er sie dem Käufer übergeben konnte.
Er musste aufs Schrecklichste hin und her gerissen gewesen sein. Es war alles schief gegangen, alle seine wohl überlegten Pläne waren zunichte gemacht worden. Er hatte nichts, was er als Gegenleistung für die Anzahlung bieten konnte, die er für das Exantrum erhalten hatte, und er hatte eine Frau, die sich mit einem tödlichen Virus infiziert hatte, den er selbst gestohlen hatte. Er hatte gewusst, dass seine Frau sterben würde, wie er zweifellos auch gewusst hatte, dass Tausende - Millionen - anderer gestorben wären, hätte nicht das Schicksal in Gestalt von Charlies Eifersucht eingegriffen, um das zu verhindern.
Er fütterte sie mit der Suppe und betrachtete so aufmerksam ihr Gesicht, als wollte er ihr Bild mit ins Grab nehmen. Als sie mit dem Essen fertig war, als sie nichts mehr hinunterbrachte, legte er den Löffel in die Schale und stellte die Schale auf das Tablett. Er beugte sich vor und küsste Charlie auf die Stirn und zog ihr die Decke bis zum Kinn hinauf.
»Vergiss nicht, dass ich dich immer lieben werde«, sagte er.
»Warum sagst du mir das? Aus heiterem Himmel?«
»Behalte es einfach im Gedächtnis.«
Er trug das Tablett hinaus. Sie hörte, wie er es in der Küche auf die Arbeitsplatte stellte. Dann kam er zurück und setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel, mit einem Kissen hinter dem Kopf.
»Weißt du es noch?«, fragte er.
»Was?«
»Was ich gesagt habe. Vergiss nicht, dass ich dich immer lieben werde.«
Bevor sie antworten konnte, zog er den Revolver unter seinem Jackett hervor. Er steckte den Lauf in den Mund und zerfetzte sich mit einem Schuss den Hinterkopf.
So ist das also, dachte Charlie, wenn man weiß, dass man sterben muss. Dieses Gefühl, dahinzutreiben. Nicht Panik, wie sie sich das vorgestellt hatte bei dem Gedanken, man würde ihr eröffnen, sie hätte eine tödliche Krankheit, stattdessen Gefühllosigkeit, automatisches Funktionieren: im Kirchenstuhl der Missionskapelle aufstehen, sich dem Altar nähern, vor dem Standbild eines in Gelb und Grün gewandeten Heiligen Halt machen, um eine Kerze anzuzünden, dann still vor dem Heiligtum stehen und wissen, dass es nichts mehr gab, worum man Gott bitten konnte.
Was, fragte sie sich, hatte Eric sich gedacht? Er war zweiundvierzig Jahre alt gewesen. Hatte er gedacht: Das war's, mehr wird aus meinem Leben nie mehr werden, wenn ich nicht diese eine Gelegenheit ergreife, alles zu ändern, mehr zu haben und mehr zu sein, die Welle zu reiten, die sich vor mir erhebt, und zu entdecken, an welche Küsten sie mich tragen wird? Wenn ich nur ein gewisses Risiko auf mich nehme, ein einziges kleines Risiko, und im Grunde genommen nicht einmal ein Risiko, wenn ich es richtig einfädele und mich nach allen Seiten absichere: Ich lasse Sharon Pasternak die Substanz beschaffen, und wenn dann jemand beim Hinausschmuggeln aus der Firma geschnappt wird, ist es Sharon und nicht ich. Ich spiele den großen Enthüller, damit Sharon glaubt, ich hätte edle Ziele. Ich nehme Kontakt zu einem Interessenten auf, bestehe aber bei den Geschäftsverhandlungen erstens auf einer Anzahlung, zweitens einer Lieferfrist, um alles für eine Flucht vorbereiten zu können, sollte mein Geschäftspartner versuchen, mich aus dem Weg zu räumen, und drittens bestehe ich auf einem zweiten Zusammentreffen zur Übergabe des Exantrum, dem dann ein schneller Abgang und die Flucht nach - ja, wohin? Tahiti, Belize, Südfrankreich, Griechenland - folgen werden. Es hatte bestimmt keine Rolle gespielt. Für Eric war die Hauptsache gewesen, dass der »Rest seines Lebens« einen neuen Sinn bekäme, der über eine Harley Davidson und ein Schlangentattoo auf dem Arm hinausging.
»Eric, Eric«, flüsterte Charlie. Wo, wann und warum hatte diese schreckliche Wandlung stattgefunden?
Sie wusste es nicht. Sie hatte ihn nicht gekannt. Sie war nicht einmal sicher, dass sie sich selbst kannte.
Sie verließ die Kapelle und kehrte schnellen Schritts zu ihrem Wagen zurück, der im Parkhaus neben dem Bahnhof stand. Sie stieg ein, müde und mit einem Gefühl, als wäre der Virus in ihrem Blut etwas, das sie spüren konnte. Und er war ja wirklich da. Um das zu wissen, brauchte sie nicht in ein Krankenhaus zu gehen oder zu Biosyn hinauszufahren, um sich Dr. Cabot als Beweis dafür anzubieten, dass seine Waffe so wirkungsvoll war, wie er gehofft hatte.
Eric hatte gewusst, dass sie sterben würden. Er hatte gewusst, wie der Virus angreifen würde. Er hatte gewusst, dass dieser Angriff nicht abgewehrt werden konnte, und hatte sich der Verantwortung für das schreckliche Unheil, das er über sie beide gebracht hatte, entzogen.
Was kann man da noch tun?, fragte sie sich. Aber sie wusste die Antwort. Sie musste alles klar und deutlich niederschreiben, damit niemand durch ihren Leichnam in Gefahr geriet. Und danach würde sie tun, was Eric getan hatte, aber aus völlig anderen Gründen. Es war keine noble Lösung, auch wenn sie vielleicht als solche erschien. Es war die einzige Lösung. Sie hatte den Revolver noch. Sie würde eine Schweinerei anrichten, und eine Schweinerei war gefährlich für andere, aber durch den Brief, den sie zu schreiben und an die Tür zu kleben gedachte, damit niemand ihn übersehen konnte, würde die Situation erklärt werden.
Merkwürdig, dachte sie, sie war nicht wütend, sie hatte keine Angst, sie empfand nichts. Vielleicht war das gut.
Auf dem Freeway fuhr sie vorsichtiger als sonst. Jedes Auto, das an ihr vorüberbrauste, war ein Hindernis, das sie um jeden Preis meiden musste. Es begann dunkel zu werden, und im grellen Licht der Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge sah sie nicht mehr gut, aber sie schaffte es ohne Zwischenfall nach Hause. Sie stellte den Wagen in der Einfahrt ab und spürte, wie eine Schwere sich über sie senkte, in dem Wissen dessen, was sie tun musste, wenn sie im Haus war.
Mehr als alles andere wünschte sie sich, sie könnte einfach schlafen. Aber dazu war keine Zeit mehr. Wenn sie acht Stunden vergeudete, blieb dem Virus diese Zeit, um in ihrem Körper zu wirken. Wer konnte sagen, in was für einem Zustand sie morgen sein würde, wenn sie heute der Erschöpfung nachgab.
Sie stieg aus dem Wagen, schleppte sich den Weg hinauf. Das Licht auf der Veranda brannte nicht, darum sah sie die Gestalt, die sich aus dem Schatten löste, erst, als sie direkt vor ihr stand. Und sie sah auch den schwachen Widerschein der Straßenbeleuchtung auf einem metallischen Gegenstand, den die Gestalt, ein Mann, in der Hand hielt. Eine Schusswaffe? Ein Messer? Sie konnte es nicht erkennen.