Cild wurde hier zum Abt ernannt und trat später zur römischen Regel über. Damit befürwortete er das Zölibat. Die verheirateten Mönche und Nonnen wurden aufgefordert, das Haus zu verlassen. Wir wurden eine geschlossene Gemeinschaft. Es ist gegen meine Anweisungen, wenn ich eine Frau in diese Gebäude einlasse. Nur deine Vollmacht als Abgesandter Erzbischof Theodors zwingt mich dazu, deinen Fall Abt Cild vorzulegen. Vielleicht verweigert er euch die Gastfreundschaft . « - er hielt inne und schaute Fidelma verlegen an -, »besonders, wenn er erfährt, daß ihr zu den verheirateten Mönchen und Nonnen gehört.«
Fidelma lächelte den dominus gewinnend an, denn sie meinte, mit Diplomatie mehr zu erreichen als mit dem Pochen aufs Recht.
»Wir werden unser Verhältnis nicht besonders betonen, Bruder Willibrod«, sagte sie mit einem bedeutsamen Blick auf Eadulf. »Und vielleicht respektierst du unser Vertrauen, wenn es dadurch für alle Beteiligten leichter wird?«
Der dominus zögerte einen Moment und zuckte dann die Achseln. »Ich werde es nicht erwähnen, wenn ihr es so wünscht.«
Eadulf kochte vor Zorn, bezwang sich aber, so gut er konnte.
»Dann könntest du uns, statt daß wir hier in der Kälte der Nacht herumstehen, eure Gästeunterkunft zeigen, damit wir uns waschen und aufwärmen können. Denn ich muß dir sagen, daß wir, was dein Abt auch meint, diese Nacht den Schutz dieses Hauses nicht verlassen werden - jedenfalls nicht, solange der Sturm uns um die Ohren heult.«
Bruder Willibrod neigte den Kopf. Er schien innerlich mit sich zu ringen. Schließlich siegte die Logik.
»Ich bringe euch zu den Gästezimmern quer über den Hof. Macht euch erst einmal frisch. Dann wird der Abt dich sicherlich sprechen wollen, Bruder Eadulf. Er wird wissen wollen, welche Botschaft du für ihn aus Canterbury hast.«
»Botschaft?« fragte Eadulf verblüfft.
»Du bist doch ein Abgesandter von Erzbischof Theodor von Canterbury. Abt Cild wird hören wollen, wozu Theodor dich hergeschickt hat, und dir viele Fragen stellen.«
Eadulf hatte Theodors Namen nur benutzt, um Einlaß in die Abtei zu finden, und merkte nun, daß sein Bluff geplatzt war.
»Also, zuerst einmal ...«, setzte er an.
»Zuerst einmal bringe ich euch zu den Gästeräumen«, erklärte Bruder Willibrod rasch, wandte sich um und ging mit schnellen Schritten über den Hof. Sie mußten fast laufen, um mit ihm mitzuhalten. Er bewegte sich mit erstaunlicher Sicherheit für einen Einäugigen. Sein Tempo war so, daß sie kaum Atem fanden, etwas zu sagen, bis der hochgewachsene dominus vor einer Tür stehenblieb und sie für sie öffnete.
»Wartet hier!« wies er sie an und verschwand im dunklen Inneren des Gebäudes. Gleich darauf kam er mit einer umhüllten Kerze zurück. »Ich leuchte euch.«
Sie schritten durch einen langen, mit Steinplatten belegten Gang. An der ersten Tür hielt Bruder Willi-brod an.
»Du kannst dich in diesem Zimmer waschen und erfrischen, Schwester. Das Feuer brennt schon, und Wasser steht bereit. Einen solchen Raum halten wir immer bereit für Reisende. Dein Zimmer, Bruder, ist noch nicht fertig. Ich werde einen Bruder beauftragen, darin Feuer zu machen, aber .«
»Wir können uns diesen Raum teilen«, sagte Eadulf und wies auf das warme Zimmer, in dem Fidelma jetzt vor dem lodernden Kamin stand.
Bruder Willibrod blickte entsetzt drein. »Ich sagte doch schon, daß dies kein gemischtes Haus ist, und Verbindungen zwischen Mönchen und Nonnen sind nicht .«
Fidelma wandte sich um und sagte in der Sprache von Eireann rasch zu Eadulf: »Laß uns der Einfachheit halber die Regeln dieses Hauses befolgen, bis wir es wieder verlassen können.«
Eadulf paßte das nicht, doch er mußte einsehen, daß Fidelma recht hatte. Sie hatten schon genug Probleme und mußten keine neuen schaffen.
»Während du dich von der Reise erholst, Fidelma, kümmere ich mich um das, was uns hergeführt hat.« Dann wandte er sich in Sächsisch an Bruder Willi-brod. »Während mein Zimmer hergerichtet wird, möchte ich gern Bruder Botulf sehen.«
Bruder Willibrods unruhiges Auge weitete sich leicht. »Bruder Botulf?«
»Er ist doch der Verwalter der Abtei, nicht wahr?«
»So weißt du es also schon?« Willibrod klang überrascht.
»Ich weiß was?« stutzte Eadulf. Dann sagte er ungeduldig: »Ich möchte Bruder Botulf sofort sehen.«
»Du willst Bruder Botulf sofort die Ehre erweisen?« wiederholte Bruder Willibrod, als habe er Mühe, ihn zu verstehen. Er zögerte einen Moment und meinte dann: »Wenn du darauf bestehst, Bruder ...?«
»Ja, das tue ich«, fauchte Eadulf, gereizt durch das seltsame Verhalten des anderen.
»Also komm mit, Bruder Eadulf.«
Mit einem ratlosen Blick zu Fidelma wandte sich Eadulf um und folgte Bruder Willibrod zurück über den tief verschneiten Hof. Die Abtei lag fast völlig im Dunkeln. Nur wenige Lichter blinkten hier und dort, doch es war niemand zu sehen. Die Gebäude schienen wie verlassen.
Bruder Willibrod ging voran durch eine überwölbte Tür in einen Raum, der offensichtlich der Vorraum der Kapelle war, schüttelte drinnen den Schnee von den Sandalen und ließ Eadulf nachkommen. Eadulf hatte kaum Zeit, sich vom Schnee zu befreien, da riß Bruder Willibrod die innere Tür auf und trat ein.
Der Geruch von warmem, muffigem Weihrauch verschlug Eadulf beinahe den Atem, so sehr stach er von der frischen, kalten Luft draußen ab. Der dominus bekreuzigte sich vor dem Hochaltar, ehe er weiterschritt.
Unwillkürlich machte Eadulf es ihm nach und fragte sich, wohin er wohl geführt wurde. Dann blieb er plötzlich stehen. Sein Herz schlug schneller.
Vor dem Hochaltar stand auf zwei Böcken eine einfache Holzkiste. An ihren beiden Schmalseiten brannte je eine Kerze in einem hohen Kerzenständer. Ihre Flammen flackerten in der Zugluft, die durch die Kapelle wehte, und wurden beinahe ausgelöscht.
Auf einmal schien der Wind zu ersterben, sein Fauchen senkte sich zu einem klagenden Flüstern. Von Furcht gepackt, ließ sich Eadulf von Bruder Willibrod an die Holzkiste führen. Er hatte schon erkannt, daß es ein Sarg war.
Bruder Willibrod trat zur Seite und blieb mit gesenktem Blick stehen. Eadulf schaute den dominus an und hoffte, dieser würde ihm sagen, es läge nicht das in der Kiste, was er mit Sicherheit vermutete. Bruder Willibrods Gesicht war in Ehrfurcht erstarrt. Es bot ihm keinen Trost.
Er trat an den Sarg und blickte hinein.
Wie er gefürchtet hatte, ruhte darin der Leichnam seines Freundes Bruder Botulf, die Hände auf der Brust gefaltet, ein hölzernes Kruzifix in seinem leblosen Griff. Er trug schon die Grabkleidung. Eadulf zwang sich dazu, sich niederzubeugen und das blutleere Gesicht seines toten Freundes aus der Kindheit anzuschauen.
Man brauchte keine besonderen medizinischen Kenntnisse, um festzustellen, daß Bruder Botulfs Schädel mit einem schweren, stumpfen Gegenstand eingeschlagen worden war. Eadulf wußte, daß eine solche Wunde nur von jemandem zugefügt werden konnte, der in böser Absicht handelte. Sein Freund war ermordet worden, und seit der Tat konnten höchstens ein paar Stunden vergangen sein.
In dem Moment erhob sich der Wind erneut und kreischte wie ein Chor gepeinigter Seelen; er heulte, als wolle er Übeltaten vorhersagen.
Kapitel 3
»Du bist gerade zur rechten Zeit gekommen, Bruder«, versicherte ihm Bruder Willibrod leise.
»Zur rechten Zeit?« murmelte Eadulf verwirrt und starrte auf den Leichnam seines Kindheitsfreundes. »Wie meinst du das - zur rechten Zeit?«
»Wir begraben die sterblichen Überreste unseres lieben Bruders um Mitternacht, wie es der Brauch der Abtei vorsieht.«
»Um Mitternacht!«
Eadulf fuhr herum und schaute Bruder Willibrod entgeistert an. In seiner Botschaft hatte sein Freund ihn eindringlich gebeten, er solle an diesem Tage vor Mitternacht in der Abtei sein. Sollte Botulf gewußt haben .? Doch wohl nicht?