»Du scheinst überrascht, Bruder Eadulf«, sagte Bruder Willibrod ruhig und erwiderte Eadulfs besorgten Blick. »Ich habe gehört, daß es in vielen Ländern üblich ist, die teuren Verstorbenen um Mitternacht zu begraben. Warum siehst du so verstört aus?«
Eadulf bemühte sich, seine wirbelnden Gedanken zu beruhigen. Er wandte sich rasch wieder dem Leichnam zu, denn er wollte seine Gefühle nicht verraten, ehe er nicht Antworten gefunden hatte, und begann die Wunden mit sorgfältigem Blick zu untersuchen.
»Botulf beging doch wohl nicht Selbstmord?« Die Frage hatte sich ihm zuerst gestellt als Antwort auf das Drängen seines Freundes, er solle vor Mitternacht in Aldreds Abtei sein. Er verwarf den Gedanken jedoch im selben Moment, in dem er ihn aussprach, denn die Wunden konnte sich Bruder Botulf unmöglich selbst zugefügt haben.
Er merkte, daß sich Bruder Willibrod hinter ihm rasch bekreuzigt hatte.
»Quod avertat Deus! Das möge Gott verhüten, Bruder. Wie kommst du auf solch einen Gedanken?«
»Wann ist das passiert?«
»Irgendwann heute morgen, soweit wir das feststellen können. Seine Leiche wurde in dem kleinen Hof hinter der Kapelle entdeckt, gleich am Eingang zur Krypta. Der arme Botulf. Er wurde heute beim frühen Morgengebet vermißt, und man fand ihn bald nach der Frühmette - in der siebenten kanonischen Stunde.«
»Also gleich nach Tagesanbruch?«
»Genau, Bruder Eadulf.«
»Wer hat ihn gefunden?«
Bei dieser Frage runzelte Bruder Willibrod mißtrauisch die Stirn.
»Bruder Osred. Er ist der Schmied in unserer Gemeinschaft und ging über den kleinen Hof zu seiner Schmiede, um sein Tagewerk zu beginnen, als er auf die Leiche stieß.«
»Nach den Wunden zu schließen wurde Bruder Botulf von hinten angegriffen. Hat man den Täter ermittelt?«
»Du stellst viele Fragen, Bruder«, erwiderte der dominus mit merklichem Argwohn in der Stimme.
»Als du batest, Bruder Botulf sehen zu dürfen, nahm ich an, daß du zur Abtei kämst, weil du schon von seinem Tod gehört hättest. Aber nun scheinst du überrascht. Und all diese Fragen. Wer bist du eigentlich?«
Eadulf bewahrte Geduld. »Ich sagte dir schon, daß ich Eadulf von Seaxmund’s Ham bin und geradewegs aus Canterbury komme. Botulf ...« Er zögerte. Vielleicht wäre es besser, Botulfs Botschaft nicht zu erwähnen. »Botulf war mein Freund. Wir sind zusammen aufgewachsen. Ich wußte nichts von seinem Tod, bis du mir seinen Leichnam gezeigt hast.«
Bruder Willibrod bedachte diese Erklärung einen Moment und erkannte sie dann an. Er machte ein betroffenes Gesicht.
»Dann tut es mir leid, daß ich dich nicht auf diesen Trauerfall vorbereitet habe. Ich hatte angenommen .« Mit verlegenem Achselzucken brach er ab.
»Ich habe dich gefragt, ob man den Täter entdeckt hat«, hakte Eadulf nach. Sein scharfer Ton irritierte Bruder Willibrod.
»Daß du Bruder Botulf kanntest, entschuldigt nicht die Art deiner Fragen«, gab er aufgebracht zurück.
»Ich war auch der erbliche gerefa von Seaxmund’s Ham.« Eadulfs Ton wurde schneidend. »Ich bin Friedensrichter nach dem Gesetz Wuffas, des Sohnes von Wehha, dem ersten König der Ost-Angeln, der unser Volk vor hundert Jahren übers Meer in dieses Land führte.«
Er wollte nicht so stolz und hochfahrend klingen, doch er wußte, daß seine Worte Eindruck auf Bruder Willibrod machen würden. Eadulf hatte nicht erwähnt, daß er sein Amt als gerefa verlor, als er die Mönchstonsur annahm und Glaubensbruder wurde. Bruder Willibrod zog aber sein Wort nicht in Zweifel. Der dominus neigte den Kopf.
»Vergib meinen Mangel an Kenntnis und Höflichkeit, Bruder gerefa.« Sein Ton war nun respektvoll.
Eadulf schob das mit einer Handbewegung beiseite.
»Berichte mir, was du weißt. Wer hat Botulf getötet und warum?«
»Abt Cild hat die Untersuchung in die Hand genommen. Anscheinend hat einer unserer Brüder einen berüchtigten Geächteten beobachtet, nicht lange, nachdem der arme Bruder Botulf gefunden wurde. Der Abt ist sich sicher, daß dieser Dieb in die Abtei einbrach und von Bruder Botulf überrascht wurde. Er erschlug den armen Botulf und flüchtete.«
Eadulf kniff die Augen zusammen. »Und weiter weiß man nichts?«
»Nach den Einzelheiten mußt du Abt Cild fragen.«
Eadulf schwieg einen Moment. Dann blickte er auf den Leichnam seines Freundes hinab und seufzte leise. Er berührte Botulfs kalte Hand.
»Ich werde die Wahrheit ans Licht bringen, Bo-tulf«, flüsterte er. »Der Schuldige wird gefunden werden.« Dann sprach er laut die Worte aus dem Evangelium des Lukas: »Nunc dimittis servum tuum, Domine ... Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren .«
An der Tür der Kapelle wandte er sich an Bruder Willibrod.
»Ich werde mich vom Reiseschmutz befreien, und dann möchten Schwester Fidelma und ich mit Abt Cild sprechen.«
Bruder Willibrod wirkte plötzlich unsicher. »Ich werde sehen, ob Abt Cild dich empfängt, aber die Frau wird er nicht sehen wollen.«
Eadulf zog die Brauen drohend zusammen. »Wie meinst du das?«
»Ich sagte dir doch schon, daß der Abt nichts von gemischten Häusern oder verheirateten Mönchen und Nonnen hält. Ich weiß nicht, ob er es überhaupt gutheißt, daß ich sie in die Abtei eingelassen habe.«
Einen Moment spiegelte sich Geringschätzigkeit in Eadulfs Miene. »Dann solltest du am besten dafür sorgen, daß der Abt erfährt, daß ich sowohl gerefa als auch Abgesandter Erzbischof Theodors bin. Und meine Gefährtin ist die Schwester des Königs von Muman im Lande Eireann.« Bei diesen Worten überkam ihn ein leichtes Schuldgefühl, denn Fidelma hatte ihn ausdrücklich gebeten, ihre Herkunft nicht zu erwähnen. Geiseln zu nehmen, um Lösegeld zu erlangen, war eine nicht unübliche Praxis. Daher war es oft besser, seinen Rang nicht preiszugeben. Er überwand seine Beunruhigung und setzte scharf hinzu: »Euer Abt täte gut daran, sich zu überlegen, wessen Feindschaft er sich zuziehen will.«
Bruder Willibrod hob resigniert die Brauen. »Was du wünschst, soll geschehen, Bruder Eadulf, aber der Abt ist ein Mann von strengem Glauben und fester Überzeugung, und er läßt sich nicht von Drohungen beeindrucken ... oder von anderen Überlegungen«, fügte er rasch hinzu, um seinen Mangel an Takt zu überspielen.
Eadulf preßte einen Moment die Lippen zusammen, dann sagte er: »Nun gut. Kläre bitte, ob er mich noch vor der Beerdigung empfangen will.«
»Ich werde dir die Antwort des Abts sehr bald ins Gästehaus bringen. Ich schicke auch einen Bruder, der Feuer macht und sich um eure Bedürfnisse kümmert.«
Als Eadulf ins Gästehaus zurückkehrte, hatte sich Fidelma inzwischen gewaschen, saß aber fest in ihre Kutte gewickelt dicht am Feuer und zitterte noch etwas. Sie blickte auf, als er eintrat.
»Ich fürchte, ich kriege eine rauhe Kehle«, klagte sie. »Die Kälte ist mir bis ins Mark gedrungen.«
»Botulf ist ermordet worden«, unterbrach sie Eadulf brüsk.
Sie starrte ihn an, als verstünde sie ihn nicht.
»Heißt das, daß dein Freund, der die Botschaft geschickt hat, tot ist?«
»Er ist ermordet worden«, wiederholte Eadulf, »und die Beerdigung findet um Mitternacht statt.«
»Um Mitternacht?« fragte Fidelma zurück. »Er hatte dich gebeten, vor Mitternacht hier zu sein. Glaubst du ...?«
»Er wurde heute früh kurz vor Tagesanbruch ermordet«, erklärte ihr Eadulf. »Wie hätte er wissen können, welche Bedeutung die heutige Mitternacht hat?«
»Vielleicht hatte sie noch eine andere Bedeutung?«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Es geht nicht ums Verstehen, sondern darum, erst einmal die Tatsachen zu kennen.« Fidelma mußte plötzlich niesen. »Dieses Feuer vermag nicht einmal, meine erstarrten Glieder aufzutauen.«