»Sie ist aber nicht in ihrem Land, und dies ist meine Abtei, in der ich die Regeln bestimme.«
»Wenn du aus dem Fenster schaust, wirst du sehen, daß bei diesem Wetter unmöglich jemand seine Reise noch heute fortsetzen kann«, gab Eadulf zurück.
Der Abt ließ sich nicht beirren.
»Ihr hättet die Reise gar nicht erst antreten sollen, ohne euch zu versichern, ob ihr auch willkommen seid«, erwiderte er ebenso bestimmt.
»Entschuldige. Ich dachte, wer zu einem christlichen Haus kommt, findet auch christliche Nächstenliebe«, antwortete Eadulf spöttisch. »Hier ist mein Land und mein Volk, und der Verwalter dieser Abtei war mein Freund, mit dem ich aufgewachsen bin. Ich hatte nicht erwartet, ein christliches Haus anzutreffen, das eine unbeugsame, mitleidlose und kleinliche Regel aufstellt.«
Der Abt betrachtete ihn mit unveränderter Miene. Er ging nicht auf die Beleidigung ein.
»Du warst längere Zeit im Ausland, habe ich gehört. Du wirst feststellen, daß sich in diesem Land vieles verändert hat. Die Abtei zum Beispiel befolgt nun meine Regel, mutatis mutandis.«
»Es ist geändert, was geändert werden mußte?« machte Eadulf aus dem lateinischen Spruch eine Frage. »Also wurde das Mitleid aus diesem Hause verbannt?«
Der Abt überging den Einwurf. »Für heute nacht werde ich Christi Großzügigkeit walten lassen. Aber morgen nach der Frühmesse werdet ihr, diese Frau und du, die Abtei verlassen. Inzwischen darf sie sich nicht aus dem Zimmer entfernen, das man ihr zugewiesen hat. Du, Bruder Eadulf, darfst dem Gottesdienst in unserer Kapelle beiwohnen.«
Eadulf schluckte empört. »Ich muß dagegen protestieren, daß ...«
»Der Frau wird nicht erlaubt, länger zu bleiben und gegen meine Regel zu verstoßen. Jetzt möchte ich wissen, was dich herführt. Hast du eine Botschaft von Erzbischof Theodor für mich?«
Zähneknirschend bemühte sich Eadulf, seinen Zorn zu beherrschen.
»Nicht für dich. Nein«, erwiderte er mit boshafter Kürze.
Die unbeweglichen Züge des Abts veränderten sich nicht. Doch seine Stimme hob sich erneut.
»Wozu bist du dann hergekommen? Du hast meinen dominus glauben gemacht .«
»Ich habe ihn nichts glauben gemacht. Ich habe ihm nur gesagt, wer ich bin. Ich kam, um meinen Freund, Bruder Botulf, zu besuchen.«
Zum erstenmal weiteten sich die Augen des Abts etwas. »Und weiter nichts?«
»Sollte noch weiter etwas sein?«
Ein kurzes Schweigen trat ein. Eadulf bemerkte, daß an der Schläfe des Abts eine winzige Ader zuckte. Er fragte sich, wie es um die Nerven des Mannes stünde.
»Soll das heißen, daß du eine Botschaft aus Canterbury für meinen Verwalter hattest? Bist du aus dem Grunde hergekommen?«
»Mehr habe ich dir nicht zu sagen«, erwiderte Eadulf, der sich über das Verhör ärgerte.
»Man hat mir berichtet, daß du den Leichnam Bruder Botulfs gesehen hast. Wenn das alles ist, dann hast du deinen Zweck erreicht und kannst morgen abreisen.«
»Meinen Zweck erreicht?« Einen Moment war Eadulf sprachlos. Nur langsam gewann er seine Beherrschung zurück. Dieser Mann war wirklich unerträglich. Seine Stimme nahm nun eine eisige Härte an. »Mein Zweck ist es jetzt, festzustellen, wer meinen Freund ermordet hat, und dafür zu sorgen, daß der Schuldige vor Gericht kommt.«
Abt Cild senkte langsam die Augenlider und hob sie wieder. Das erinnerte Eadulf an einen Falken, der die Augen verhüllt, bevor er zustößt. Ein feines Lächeln schien um die schmalen Lippen zu spielen. Eadulf verglich es mit Mondlicht, das auf einem Grabstein glänzt. Die Stimme des Abts verriet kein Gefühl, nur eine versteckte Drohung lag in ihr. Eadulf erschauerte leicht, und seine Nackenhaare prickelten einen Moment.
»Ich kann dir sagen, daß der Geächtete Aldhere, der im Moor lebt, der Schuldige ist. Morgen mittag werde ich einige unserer Brüder sammeln, ins Moorland reiten und ihn jagen wie einen wilden Hund, der er ja auch ist. Wenn wir ihn fangen, hängen wir ihn. Damit ist dein Zweck erfüllt, und du wirst die Abtei verlassen, wie ich es angeordnet habe. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt, Eadulf von Seaxmund’s Ham?« Abt Cild erhob sich lässig mit einer einzigen gleitenden Bewegung, die Eadulf an eine Schlange erinnerte, die sich nach einem Sonnenbad aufrollt.
»Wird dieser Aldhere vor Gericht gestellt?« wagte er noch zu fragen und bemühte sich, die Furcht zu unterdrücken, die der Abt anscheinend mühelos in ihm wachrief.
»Vor Gericht? Wozu das? Aldhere ist ein Mörder. Für solche Leute braucht man kein Gericht.«
»Was war sein Motiv, und welche Beweise gibt es?« forschte Eadulf, der sich nicht abweisen lassen wollte.
»Sein Motiv war Diebstahl, und der Beweis liegt darin, daß Aldhere gesehen wurde, wie er die Abtei verließ, kurz nachdem man Botulfs Leichnam entdeckt hatte.«
»Wer sah Aldhere?«
Abt Cild stieß ein verärgertes Zischen aus. »Du strapazierst meine Geduld etwas arg, Eadulf von Seax-mund’s Ham. Geh jetzt. Ich habe die Beisetzung vorzubereiten.«
Er entließ ihn mit einer Handbewegung, und trotz seiner Proteste fand sich Eadulf vor der Tür des Abts wieder, so stark wirkte Cilds Persönlichkeit.
Bruder Willibrod erwartete ihn.
»Ich denke, du wirst an der Beisetzungsfeier teilnehmen?« fragte er.
Eadulf nickte traurig.
»Ist euch klar, daß die Frau keinen Gottesdienst in der Abtei besuchen darf?« fügte der dominus hinzu. »Ich habe strenge Anweisung vom Abt.«
Eadulf war noch voller Zorn über das Gespräch mit Abt Cild und ging nicht auf die Frage ein.
»Welche Beweise liegen gegen diesen Aldhere vor?« wollte er wissen. »Er wurde in der Nähe der Abtei beobachtet, aber was bringt ihn mit dem Tod Botulfs in Verbindung?«
Bruder Willibrod mußte sich erst auf den Wechsel des Themas einstellen, dann zuckte er die Achseln.
»Zweifelst du an Abts Cilds Wort, daß er gesehen wurde?«
»Bisher habe ich nichts gehört, was mich an Abts Cilds Wort glauben oder zweifeln ließe. Ich habe keinen Zweifel daran, daß er Aldhere hängen lassen will. Doch bevor ein Mensch sein Leben verwirkt hat, ist es üblich, Beweise für seine Vergehen zu verlangen. Der Abt erklärt mir, sein Motiv sei Diebstahl gewesen, aber wie ich höre, wurde nichts gestohlen. Jemand soll gesehen haben, wie Aldhere die Abtei verließ, doch niemand sagt mir, wer das war. Vielleicht Bruder Os-red? Der nach deinen Worten den Leichnam Botulfs gefunden hat?«
Bruder Willibrod lächelte düster. »Du warst zu lange im Ausland, Bruder. Du hast vergessen, daß wir hier unter Tieren leben. Du tötest oder du wirst getötet. Wenn jemand das Land oder die Frau eines anderen begehrt und er ist stark, dann nimmt er sich, was er will. Der Schwache ist immer der Verlierer.«
»Der Glaube hat doch unsere heidnischen Sitten gebessert«, wandte Eadulf ein.
»Nur so weit, wie wir es erlaubt haben. Einigen ist es unmöglich, sich zu ändern. Naturam expelles furca tamen usque recurret.«
»Treib die Natur mit der Forke hinaus: Stets kehret sie wieder«, übersetzte Eadulf, um zu beweisen, daß er verstanden hatte.
»Unser Glaube mag sich ändern, aber nicht unsere Sitten.«
»Ihr sollt aber doch Christus nachfolgen.«
»Das können wir nur, wenn wir lange genug auf dieser Erde bleiben. Gesetzlose wie Aldhere wollen nicht, daß die Abtei überlebt. Er ist ein tollwütiger Hund.«
»Also hat der Hund einen schlechten Ruf, und deshalb wird er gehängt? Seine Schuld oder Unschuld spielt dabei keine Rolle?«
»Wenn er dieser Tat nicht schuldig ist, dann irgendeiner anderen. Was gibt es da für einen Unterschied?«
Eadulf war daran gelegen, daß der Mörder seines Freundes gefunden und bestraft und daß gegen jeden Verdächtigen nach dem Gesetz verfahren würde. Er gelobte sich, daß er, falls der Abt wirklich am nächsten Tag eine Verfolgerschar ins Moorland führte, dabei wäre, um dafür zu sorgen, daß der Gerechtigkeit Genüge getan würde. Der Gerechtigkeit, nicht der blindwütigen Rache.