»Und mit solcher Logik gelangen wir ins Paradies?« entgegnete er scharf. »Komm, dominus, ich möchte den sprechen, der anscheinend der einzige Zeuge im Fall des Mordes an Bruder Botulf ist. Die Angelegenheit ist zu ernst für eine Behandlung nach Vorurteil. Eine Fehlentscheidung würde ein schlechtes Licht auf die Abtei werfen und auf jeden, der dazu beigetragen hat, die Gerechtigkeit zu verhindern.«
Bruder Willibrod zögerte einen Moment, dann gab er nach.
»Bruder Wigstan war derjenige, der Aldhere sah. Er wird heute abend bei der Beerdigung sein. Findest du jetzt den Weg zum Gästehaus allein?«
Eadulf nickte, und Bruder Willibrod wandte sich abrupt um und eilte davon.
Als Eadulf zum Gästehaus zurückkehrte, ging er sofort in Fidelmas Zimmer und fand sie mitten in einem Hustenanfall. Er brachte ihr Wasser, und sie schaute ihn aus geröteten Augen an.
»Was gäbe ich für ein gutes irisches Schwitzbad«, murmelte sie. »Eine rauhe Kehle, Niesen und Husten, und alles wegen dieses fürchterlichen Klimas. So kaltes Wetter habe ich noch nirgends erlebt.«
»Das kommt daher, weil das Land so niedrig liegt«, erklärte ihr Eadulf. »Nichts schützt uns vor dem eisigen Nordwind von der See her. Keine Berge halten ihn auf.«
»Und das führt nun dazu, daß ich erkältet bin.«
Eadulf hatte an der großen irischen Hochschule von Tuaim Brecain Medizin studiert und kramte schon in einer seiner Taschen.
»Solange wir ein Feuer haben und folglich Wasser heiß machen können, ist nicht alles verloren.« Er lächelte zuversichtlich. »Ich bereite dir einen Aufguß von Holunderblüten und Geißblatt und rühre etwas Honig hinein, den ich bei mir habe. Bald bist du wieder gesund.«
Während Eadulf die Medizin mischte, berichtete er ihr von seiner Begegnung mit Abt Cild. Fidelma hörte aufmerksam zu und stellte ein paar Fragen, um einige Punkte zu klären.
»Er scheint ganz so zu sein, wie Bruder Willibrod ihn beschrieben hat«, meinte sie am Ende seiner Erzählung.
»Er bringt Schande über den Glauben.«
»Er bringt Schande nur über sich selbst«, antwortete Fidelma. »Ein Mann von so schäbiger Arroganz zieht allein sich selbst Verachtung zu, nicht dem Glauben. Hoffen wir, daß ich morgen früh so weit gesund bin, daß wir abreisen können. Heute abend bleibe ich hier im Zimmer. Es tut mir leid, daß ich am Begräbnis deines Freundes nicht teilnehmen kann, Eadulf.«
Eadulf zuckte die Achseln. Er ersparte es sich, ihr mitzuteilen, daß man sie sowieso nicht in die Kapelle gelassen hätte.
»Du kannst Botulf nicht mehr helfen. Jetzt ist es wichtiger, daß du wieder gesund wirst. Ich habe genug von diesem Aufguß hergestellt, damit du die ganze Nacht davon trinken kannst. Nimm nur kleine Schluk-ke. Denk daran.« Mit einem zerstreuten Lächeln wandte er sich zur Tür.
»Ich werd’s mir merken«, rief ihm Fidelma nach. »Und sei vorsichtig mit deinen Fragen, Eadulf. Die Brüder in diesem Hause sind anscheinend leicht zu verprellen.«
Als Eadulf das Gästehaus verließ, begann in der Ferne eine Glocke zum Angelus zu läuten. Er schritt rascher aus, den dunklen, mit Steinplatten belegten Gang entlang, und versuchte sich an den Weg zur Kapelle zu erinnern. Es war eisig kalt, und durch die Bögen, die sich zum Hof hin öffneten, sah er, daß der Schnee noch immer schräg vom schwarzen Nachthimmel fiel. Durch mehrere überdachte Gänge ge-langte er zu einem kleineren Hof, den ein Kreuzgang umgab. An Eadulfs Seite hing am Ende eine Sturmlaterne, die eine Tür beleuchtete. Eine ähnliche Laterne erblickte er über einer Tür auf der anderen Seite. Im offenen Hof lag der Schnee sehr dicht. Er merkte, daß dies der kleine Hof hinter der Kapelle war, wo man den Leichnam von Bruder Botulf gefunden hatte. Er hielt inne. Eine der Türen mußte in die Krypta führen.
Er stand an einem der Pfeiler und überlegte, wie er am besten zur anderen Seite der Kapelle, wo die Haupttüren waren, gelangen könnte, als er auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes im Schatten des Kreuzganges eine Bewegung bemerkte. Eine schlanke Gestalt in einem langen Mantel trat aus einer dunklen Nische und schritt rasch und leise den Gang entlang. Erstaunt sah er zu. In diese Umgebung schien die Gestalt nicht zu passen. Sie blieb an der Tür mit der Laterne kurz stehen und blickte sich forschend um, ob sie nicht beobachtet würde. Eadulfs Augen weiteten sich.
Das schwache Licht ließ ihn das Gesicht einer jungen Frau erkennen. Selbst über den Hof hinweg empfing Eadulf den Eindruck von zarter Schönheit, blassem Teint - zu blassem? - und blondem Haar. Die Gestalt war nicht wie eine Nonne gekleidet, sondern trug ein feines rotes Kleid und Schmuck aus Silber und glitzernden Edelsteinen.
Dann verschwand sie schnell und lautlos in der Tür.
Eadulf fragte sich, wer die junge Frau wohl war und was sie in einer Abtei tat, die angeblich Männern vor-behalten war, die sich zu einem Leben des Glaubens im Zölibat verpflichtet hatten. Frauen hatten hier doch wohl keinen Zutritt?
Als Eadulf die Kapelle betrat, hatte der Abt bereits mit dem Gedenkgottesdienst für die Seele Bruder Bo-tulfs begonnen. Er sprach schon den Segen, und Eadulf mußte auf seine Fragen verzichten.
»Möge der Segen des Lichts dich begleiten, des äußeren Lichts und des inneren Lichts ...«
Mehr als dreißig Brüder hatten sich in der Kapelle versammelt. Eadulf setzte sich auf eine Bank im Hintergrund; er wollte nicht auffallen.
Er blickte sich um. Die meisten Mönche waren jung und anscheinend kräftig gebaut. Einige hatten harte Gesichter und schienen eher in einer Schlachtordnung am Platze, mehr an den Umgang mit Schwert und Schild gewohnt als an den mit Kruzifix und Weihwasser.
Auf die Gebete folgte ein Lied. Eadulf kannte es nicht und sang deshalb nicht mit.
Abt Cild ging nach vorn und setzte gerade zu einer Lobrede an, als die beiden großen hölzernen Türen der Kapelle krachend aufflogen.
Wie alle Brüder fuhr Eadulf überrascht herum.
Ein hochgewachsener Mann stand breitbeinig im Türrahmen mit einem blanken Schwert in der Hand und seinem Schild verteidigungsbereit am anderen Arm. Daß er ein Krieger war, war nicht zu verkennen, aber welcher Art von Krieger oder wer, das war nicht so leicht festzustellen. Er trug einen glänzenden Helm mit Kopf und Schwingen einer Gans als Helmzier. Der Schnabel der Gans war warnend geöffnet, der Hals flach gebogen, und die Schwingen waren an beiden Seiten des Helms nach hinten gelegt. Es war ein furchterregendes Bild. Eadulf erinnerte sich dunkel, daß bei manchen Völkern die Gans ein Symbol der Schlacht darstellte. Dies schien hier auch der Fall zu sein, denn das Visier des Helms war geschlossen, und nur die hellen Augen des Kriegers funkelten im Kerzenschein der Kapelle mit drohender Feindseligkeit.
Ein langer schwarzer Pelzmantel hüllte ihn ein, doch darunter sah Eadulf einen Brustharnisch schimmern. Der Arm mit dem dräuenden Schwert war muskulös. Lange Sekunden hindurch herrschte absolute Stille in der Kapelle. Dann sprach der Mann, und seine Stimme dröhnte durch das ganze Gebäude. Sein Sächsisch klang schwerfällig und hatte einen fremden Akzent.
»Erkenne mich, Cild, Abt von Aldreds Abtei. Sieh mich an und erkenne mich.«
Kapitel 4
Einen Moment trat tiefes Schweigen in der Kapelle ein.
Abt Cild mußte eine eiserne Selbstbeherrschung besitzen, denn die drohende Erscheinung des Kriegers schien ihn überhaupt nicht zu beeindrucken. Seine Antwort gab er in höhnischem Ton.
»Ich erkenne keinen Menschen, der bewaffnet in Christi Haus kommt und sein Gesicht hinter einem Kriegshelm verbirgt.«