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Fidelma sah etwas entsetzt aus, sagte aber nichts.

»Gott schaue auf uns herab«, murmelte Eadulf, dessen Miene seine Meinung über diesen Mangel an Manieren verriet.

»Christen, was?« brummte der Neuankömmling und betrachtete sie neugierig. »Na, ich bin ein alter Hund und lerne keine neuen Kunststücke mehr. Die Götter, die meinen Vater schützten, sind auch gut genug für mich. Mögen alle und jede Götter die Reisenden in dieser Nacht schützen.«

Der Wirt setzte ihm einen neuen Becher Met vor.

»Soll ich dir ein Bett zurechtmachen, Mul?«

Der Riese schüttelte heftig den Kopf. Er ähnelte dabei einem großen zottigen Hund. Haar und Bart schienen sich zu einer wirren Mähne zu vereinen.

»Bei Thunors Hammer, nein!«

»Aber dein Hof ist doch mindestens sechs Meilen von hier!« rief der Wirt. »Das schaffst du nie bei diesem Sturm.«

»Das schaff ich«, antwortete der stämmige Bauer mit grimmiger Zuversicht. »Von dem bißchen Schnee laß ich mich nicht an der Heimfahrt hindern. Außerdem ist heute die Mutternacht, und ich will Frig und den Asinnen zur richtigen Stunde einen Becher Met darbringen. Ich bin noch vor Mitternacht auf meinem Hof, Freund Cynric. Schließlich muß ich ja auch meine Tiere versorgen. Wenn ich’s nicht mache, gehen sie leer aus. Ich war den ganzen Tag unterwegs, um Käse auf dem Markt in Butta’s Leah zu verkaufen.«

Eadulf bemerkte Fidelmas verständnisloses Gesicht und erklärte ihr flüsternd: »Heute ist Wintersonnenwende, der Beginn des alten heidnischen Julfests, das zwölf Tage dauert. Mit dem Fest feiern wir die Göttin Frig und die Asinnen, die Urmütter unserer Rasse. Der Höhepunkt des Fests ist Wotan geweiht.«

Fidelma sah noch ebenso verblüfft aus wie zuvor.

»Es ist die Zeit der Dunkelheit, und wir müssen den Göttern und Göttinnen Geschenke darbringen, um die Wiedergeburt der Sonne zu bewirken.«

Fidelmas mißbilligende Miene entging ihm, denn inzwischen betrachtete er den Neuankömmling mit einigem Interesse.

»Darf ich fragen, Freund, in welcher Richtung dein Hof liegt? Ich hörte, wie der Wirt dich Mul nannte. Es gab einen Mul, der den Hof Frig’s Tun bewirtschaftete, bevor ich auf Reisen ging. Bist du das?«

Der stämmige Bauer sah Eadulf scharf an und runzelte die Stirn.

»Wer bist du denn, Christ?« wollte er wissen.

»Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham, wo ich gere-fa war, bevor ich Mönch wurde.«

»Eadulf? Eadulf von Seaxmund’s Ham? Deine Familie kenne ich. Ich habe auch gehört, daß einer von ihnen sich zum neuen Glauben bekehrt hat. Du hast recht. Ich bin Mul von Frig’s Tun, und wie ich Cynric schon sagte, habe ich vor, heute nacht in meinem eigenen Bett zu schlafen.«

»Aber die Straßen sind doch unpassierbar«, warf der Wirt Cynric ein.

Der Bauer lachte rauh. »Unpassierbar für Leute, die keinen Mut besitzen. Noch einen Becher Met, Cynric, dann mache ich mich auf den Weg.«

Fidelma klopfte Eadulf auf den Arm.

»»Virtutis fortuna comes«, flüsterte sie auf lateinisch. Das Glück war wirklich der Begleiter des Mutes, aber was sie meinte, und so verstand es Eadulf auch, war, daß man die Gelegenheit beim Schopfe packen mußte.

Eadulf bemühte sich, die Frage so zu stellen, daß Mul sie günstig aufnahm.

»Dein Weg führt dich doch in die Richtung von Aldreds Abtei, nicht wahr?«

Mul verhielt mit dem Becher an den Lippen und sah Eadulf forschend an.

»Und wenn?« konterte er.

»Meine Gefährtin und ich, wir möchten die Abtei unbedingt noch heute abend erreichen. Falls du Platz hast auf deinem Wagen, würde ich dich gut dafür bezahlen, wenn du am Tor der Abtei vorbeifährst.«

Cynric, der Wirt, fand das gar nicht gut.

»Ich rate euch davon ab, weiterzufahren. Es ist zu gefährlich. So einen Schneesturm haben wir die letzten zehn Jahre nicht erlebt. Dieser bitterkalte Wind treibt den trockenen Schnee, türmt ihn hinter Mauern und Hecken und Gräben auf und füllt die Senken damit. Ihr könnt leicht den Weg verfehlen und in einen See oder überfrorenen Fluß stürzen und euch dabei ein Bein brechen oder euch noch schlimmer verletzen. Und dann ist da noch das Moor.«

Mul leerte seinen Becher und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Nachdenklich kraulte er einen Moment seinen dichten, groben Bart. Schließlich seufzte er und wandte sich an den Wirt.

»Du bist ein altes Weib, Cynric. Ich kenne die Wege wie die Linien auf meiner Handfläche.« Er schaute Eadulf an. »Mein Weg führt dicht am Tor der Abtei vorbei. Mögen die Götter diesen Sitz des Übels verfluchen. Wenn du bezahlen kannst, nehme ich euch mit. Aber ich habe nur einen unbequemen Bauernwagen mit einem Gespann Maultiere davor.«

Eadulf wechselte einen raschen Blick mit Fidelma.

»Ich höre es nicht gern, daß du ein Haus des christlichen Glaubens einen Ort des Übels nennst, Freund, und daß du falsche Götter anrufst, um es zu verfluchen.«

Mul grinste säuerlich. Das machte ihn noch häßlicher als sonst.

»Es ist klar, daß du Aldreds Abtei nicht kennst und nicht weißt, was heutzutage daraus geworden ist. Aber deine Meinung geht mich nichts an.«

Eadulf zögerte und fragte dann: »An was für einen Fuhrlohn hast du gedacht?«

»Wenn ihr euch entschließt, bei mir mitzufahren, werdet ihr mir wohl einen Penny für meine Mühe gönnen.«

Eadulf schaute Fidelma an, die rasch nickte.

»Einverstanden, mein heidnischer Freund«, erklärte Eadulf befriedigt.

Der Bauer stand auf und griff sich seinen Pelzumhang.

»Wann könnt ihr fertig sein?« wollte er wissen.

»Wir sind fertig.«

»Dann kümmere ich mich um mein Gefährt. Kommt zu mir nach draußen, wenn ihr soweit seid.«

Sie zogen sich schon ihre Wollmäntel an, als der Bauer durch die Tür verschwand.

Cynric sah ihnen besorgt zu. »Überlegt euch das bitte noch mal. Der Weg ist gefährlich. Nur ein Blödmann wie Mul wagt so eine Fahrt. Hier in der Gegend nennen ihn alle den verrückten Mul. Es ist viel sicherer, wenn ihr wartet, ob sich der Sturm morgen legt.«

»Und wenn er es nicht tut?« Eadulf lächelte und drückte dem Gastwirt ein paar Münzen für die Mahlzeit in die Hand. »Den Versuch wollen wir wenigstens heute abend noch machen.«

»Es ist schließlich euer Leben, das ihr riskiert«, meinte der Wirt achselzuckend und gab sich geschlagen.

Draußen saß Mul bereits auf seinem Wagen, vor dem zwei geduldige Maultiere an der Deichsel standen und den Kopf leicht gegen den eisigen, heulenden Wind gesenkt hielten. Die Winternacht war hereingebrochen, doch der Bauer hatte an jede Seite seines Wagens eine Sturmlaterne gehängt, und im Widerschein ihres Lichts auf dem Schnee konnte man etwas sehen. Die Windstöße häuften große Schneewehen auf. Eadulf half Fidelma auf den Wagen, warf ihre Reisetaschen hinterher und kletterte dann selbst hinauf.

»Setzt euch dort hin«, schrie ihnen Mul durch das Jaulen des Windes zu und deutete auf den geschützten Platz hinter dem Kutschbock. »Eure Wollmäntel schützen euch kaum vor der Kälte. Da liegen ein paar Pelze. Wickelt euch ein, dann ist es nicht so schlimm.«

Cynric war vor die Tür getreten. Er hob zum Abschied die Hand.

»Ihr seid alle verrückt«, rief er ihnen nach, und das Sausen des Schneesturms verzerrte seine Worte. »Aber wenn ihr unbedingt reisen wollt, so sei Gott mit euch auf allen euren Wegen.«

»Gott sei mit dir, Wirt«, antwortete Eadulf ernst, bevor er neben Fidelma unter die Pelze schlüpfte. Dann hörten sie Mul mit den Leinen klatschen und rufen, und mit einem Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung.

Kapitel 2

Sobald sie vom Hof des Gasthauses herunter und an den ihn umgebenden Bäumen vorbei waren, fuhr der Wind auf sie los und bewarf sie mit Schnee wie mit Eiskügelchen, die hart und trocken waren und Schmerz verursachten, wenn sie das Gesicht trafen. Es war ein bitterkalter Wind, der ihnen entgegenheulte und manchmal wie angstvoll aufkreischte. Eadulf war froh, daß die Pelze auf dem Wagen sie vor der vollen Wucht des eisigen Sturms schützten.