Fidelma lächelte. »Wie du dich erinnern wirst, konnten das die anderen auch nicht. Manche in der Abtei fanden sie freundlich und liebenswert, während andere sie nicht mochten. Tatsache ist, daß kein Mensch ganz gut oder ganz schlecht ist, sondern für verschiedene Leuten beide Eigenschaften gleichzeitig aufweisen kann. Ich neige zu der Auffassung, daß ihre schlechten Eigenschaften durch die Umstände hervorgebracht wurden.«
Sie blickte hinüber zu Gelgeis’ Familie. Sie konnte sich eines gewissen Mitleids nicht erwehren, als sie sie dort blaß und zusammengesunken sitzen sah. Bruder Laisre tätschelte dem alten Fürsten den Arm.
»Und nun, Gadra von Maigh Eo«, fragte Fidelma, »wirst du in Frieden abziehen und auf dieses troscud verzichten? Denk daran, daß ich dir diese Enthüllung ersparen wollte. Nur dein blindes Bestehen ...« Sie hielt inne, zog eine Schulter hoch und ließ sie wieder sinken.
Es war Garb, der für seinen Vater antwortete.
»Das troscud ist aufgegeben, Schwester. Wenn es keine Ursache gibt, kann es auch keine Wirkung geben. Wir kehren nach Maigh Eo zurück.«
Sie verließen gerade die Kapelle, als Werferth, der Befehlshaber von Sigerics Leibwache, hereinkam und sich bei Sigeric meldete. »Ich bin den Spuren dieses Higbald aus Mercia und seiner Männer gefolgt, Lord Sigeric. Sie führen geradewegs in die Richtung auf Mercia. Sie sind auf der Flucht von hier.«
Sigeric seufzte resigniert.
»Anscheinend können wir nicht einmal Higbald für seine Verbrechen bestrafen? Eins verstehe ich an dieser traurigen Geschichte immer noch nicht. Warum wollte Higbald euch beide in eine Falle locken? Cild hatte euch der Hexerei beschuldigt. Warum wollte er euch nicht einfach durch Cild mit einem Fehlurteil beseitigen lassen? Warum machte er sich all die Mühe?«
»Vergiß nicht, daß Higbald im Auftrage von Mercia hier war, um ein Höchstmaß an Zwist und Gewalt zu erzeugen«, erklärte Eadulf. »Im nachhinein habe ich begriffen, daß damals, als ich Cild nachritt, um dabeizusein, wenn er Aldhere erreichte - an dem Vormittag, als Cild so tat, als wolle er seinen Bruder jagen -, daß ich selbst nur knapp dem Tod durch Higbalds Hand entging.«
Sigeric war verblüfft, und selbst Fidelma hörte interessiert zu.
»Erinnerst du dich, daß Garb uns erzählte, wie Higbald mir aus der Abtei gefolgt sei?« fuhr Eadulf fort. »Hätten Garb und seine Männer Higbald nicht abgefangen, so glaube ich, hätte Higbald mich töten und die Tat auf Aldhere schieben wollen. Sein Hauptziel war es, Uneinigkeit, Verdacht und Zwietracht zu säen. Garb rettete mir wahrscheinlich das Leben. Aus demselben Grunde ersann er den komplizierten Plan, Fidelma und mich zur Flucht zu veranlassen. Hätte Cild Fidelma wegen Hexerei hinrichten lassen, wäre das zwar eine irrsinnige Tat gewesen, aber man hätte behaupten können, sie sei nach dem Gesetz geschehen. Würden wir aber außerhalb der Abtei ermordet, dann gäbe es diesen Vorwand nicht. Weiteres Mißtrauen und größere Beunruhigung würden daraus entstehen. Als was für ein vollendeter Lügner hat sich Higbald herausgestellt!«
»Nun ja, vielleicht begegnet uns dieser Higbald noch einmal«, seufzte Sigeric. »Wenn Mercia uns wirklich angreift, werden hoffentlich unsere Schwertarme stärker sein als ihre Intrigen.« Der Alte schaute sich in der Kapelle um. Von den Versammelten waren nur noch ein Dutzend Mönche übrig, mit Bruder Wil-librod an der Spitze. Er war bedrückt und hatte rote Augen, ein trauriger Anführer. Der Oberhofmeister winkte ihn heran.
»Der Gestank des Bösen lastet noch auf dieser Abtei, Bruder Willibrod«, erklärte Sigeric. »Ich will hier niemandem eine Schuld zuweisen, aber ich werde hierüber dem Bischof König Ealdwulfs Bericht erstatten, der die Verantwortung für diesen Ort übernehmen muß. Wotan sei Dank, daß ich kein Christ bin und euch keine Vorwürfe machen muß. Warum erhielten König Eald-wulf oder sein Bischof keine Kunde vom Verhalten eures Abtes?«
Als Bruder Willibrod den Mund öffnete, winkte Si-geric mit erhobener Hand ab.
»Nein, ich will nichts hören. Spar dir deine Ausreden für den Bischof deines Glaubens. Ich werde lediglich berichten, was ich vorgefunden habe. Inzwischen bleibst du hier und übernimmst die Leitung der Brüder, bis du von deinem Bischof hörst. Es wird deine Aufgabe sein, die Abtei in Ordnung zu bringen.«
Er erhob sich und kam mit ausgestreckter Hand auf Fidelma zu.
»Ich habe viel gelernt in den letzten Stunden, Fidelma von Cashel. Ich entschuldige mich für meine kulturelle Unwissenheit. Ich bedaure sie. Möge dein Gott mit dir sein auf allen deinen Reisen. Auch mit dir, Bruder Eadulf. Du hast eine Gefährtin, deren Weisheit ihrer Schönheit gleichkommt.«
Der Alte gab Werferth ein Zeichen, ihn zu begleiten, wandte sich um und verließ die Kapelle.
Willibrod begann, seinen Brüdern Anweisungen zu geben, und währenddessen gingen Fidelma und Eadulf gemeinsam hinaus auf den Hof und traten in den fahlen Sonnenschein des winterlichen Spätnachmittags. In einer Stunde würde es dunkel. Der Bauer Mul erwartete sie.
»Na«, sagte er und lächelte unsicher, »ich nehme an, ihr wollt beide nicht noch eine Nacht an diesem üblen Ort verbringen? In meinem Bauernhaus gibt es immer ein warmes Bett. Ein warmes Bett, guten süßen Apfelwein und eine gesunde Mahlzeit.«
Fidelma wechselte einen raschen Blick mit Eadulf und nickte.
Mul grinste breit. »Wenn das so ist, dann hole ich schon mal eure Ponys. Ich glaube nicht, daß deine Landsleute sie wiederhaben wollen, Schwester. Sie haben sich alle ganz eilig auf den Weg nach Tunstall gemacht. Ich bin gleich wieder da.«
Fidelma setzte sich auf eine Steinbank im Hof und schaute auf die bedrückenden dunklen Mauern der Abtei ringsum.
»Eine traurige Geschichte, Eadulf. Wirklich traurig.«
»Kommst du dann mit nach Seaxmund’s Ham?« fragte Eadulf plötzlich. »Du hast noch nicht den Ort gesehen, an dem ich geboren wurde. Nicht, daß es da viel zu sehen gäbe. Der arme Botulf ist nicht mehr, und er war mein Jugendfreund. Es gibt dort niemanden mehr, den ich als meinen Verwandten bezeichnen würde. Trotzdem würde ich den Ort gern aufsuchen, da ich ihm nun schon so nahe bin.«
Fidelma lächelte ihn sanft an.
»Ja, Eadulf, da wir so nahe sind, weigere ich mich nicht, mit dir zu gehen«, sagte sie ruhig. »Es ist schließlich dein Geburtsort.«
»Und danach, wie dann weiter?« fragte er zögernd.
»Danach?« Fidelmas Mundwinkel umspielte eine Andeutung ihres alten Humors. »Danach möchte ich in das Königreich meines Bruders zurückkehren. Mein Baby soll in Cashel geboren werden.«