»Jetzt wird folgendes passieren. Sie wird in ein künstlich hervorgerufenes Koma versetzt. Erschrick nicht, wenn ihre Augen glasig werden, und erwarte nicht, daß sie dich erkennt, solange das Medikament wirkt.«
»Das ist grauenhaft, unmenschlich. Die Menschen kämpfen darum, aus dem Koma herauszukommen, nicht darum, ins Koma zu fallen.«
»Die Menschen kämpfen darum zu leben, und nicht darum, Selbstmord zu begehen«, entgegnete der Krankenpfleger, doch Veronika überhörte die Spitze. »Im Koma befindet sich der Organismus in Ruhe. Seine Funktionen werden drastisch herabgesetzt, mögliche Anspannung verschwindet.«
Während er sprach, spritzte er die Flüssigkeit, und Zedkas Augen verloren ihren Glanz.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Veronika zu ihr, »du bist vollkommen normal, die Geschichte, die du mir vom König erzählt hast -«
»Spar dir die Mühe. Sie kann dich schon nicht mehr hören.«
Die Frau auf dem Bett, die Minuten zuvor noch geistig klar und voller Leben schien, hatte jetzt den Blick starr auf irgendeinen Punkt gerichtet, und Schaum trat aus ihrem Mundwinkel.
»Was haben Sie getan?« schrie Veronika den Krankenpfleger an.
»Meine Pflicht.«
Veronika begann »Zedka« zu rufen, zu schreien, mit der Polizei, der Presse, den Menschenrechtsorganisationen zu drohen.
»Beruhige dich. Auch wenn du in einer Anstalt lebst, mußt du ein paar Regeln einhalten.«
Sie sah, daß der Mann es ernst meinte, und bekam Angst.
Da sie aber nichts zu verlieren hatte, schrie sie immer weiter.
Von dort, wo Zekda jetzt war, konnte sie die Krankenstation mit den leeren Betten sehen. Nur eines war belegt. Neben ihrem festgebundenen Körper stand ein Mädchen, das ihn erstaunt anblickte. Das Mädchen wußte nicht, daß die Körperfunktionen dieses Menschen dort auf dem Bett normal weiterarbeiteten, die Seele jedoch in der Luft schwebte, beinahe die Decke berührte und einen tiefen Frieden empfand.
Zedka machte eine >Astralreise<, etwas, was beim ersten Insulinschock eine Überraschung gewesen war. Sie hatte niemandem etwas davon gesagt. Sie war nur hier, um von ihrer Depression geheilt zu werden und anschließend, sobald ihr Zustand es ihr erlaubte, diesen Ort für immer zu verlassen. Wenn sie erzählen würde, daß sie aus ihrem Körper getreten sei, würde man glauben, sie sei verrückter als bei ihrer Einlieferung. Sobald sie in ihren Körper zurückgekehrt war, begann sie jedoch über beides nachzulesen: über den Insulinschock und über das seltsame Im-Raum-Schweben.
Über die Behandlung gab es nicht vieclass="underline" Sie war das erste Mal um 1930 angewandt worden, doch dann wegen der möglichen bleibenden Schäden bei den Patienten vollkommen aus der Psychiatrie verbannt worden. Einmal hatte sie in einer Schock-Behandlung als Astralleib Dr. Igors Büro besucht, und zwar just in dem Augenblick, als er mit einem der Besitzer des Krankenhauses redete. »Es ist ein Verbrechen«, sagte er. »Es ist billiger und schneller«, entgegnete ihm der Besitzer. »Außerdem, wer interessiert sich schon für die Rechte eines Verrückten? Niemand wird Klage einreichen.«
Dennoch hielten es auch einige Ärzte immer noch für eine schnelle Art, Depressionen zu behandeln. Zedka hatte sich alles verschafft oder ausgeliehen, was es über den Insulinschock gab. Vor allem die Berichte von Insulinschockpatienten.
Es war immer die gleiche Geschichte: Grauen und abermals Grauen, niemand aber hatte etwas Ähnliches erlebt wie sie.
Sie schloß — zu Recht — daraus, daß es keinerlei Zusammenhang zwischen dem Insulin und dem Frei-im-Raum-Schweben gab. Ganz im Gegenteil, diese Art Behandlung minderte eher die geistige Fähigkeit des Patienten.
Sie begann, der Existenz der Seele auf den Grund zu gehen, las mehrere Bücher über Okkultismus, bis sie eines Tages auf eine ganze Reihe von Publikationen stieß, die genau das beschrieben, was sie erlebte: die >Astralreise<. Viele Menschen hatten diese Erfahrung gemacht. Einige hatten über ihre Erfahrungen geschrieben, und wieder andere hatten sogar Techniken entwickelt, um diesen Zustand herbeizuführen.
Zedka hatte sich diese Techniken beigebracht und wandte sie jede Nacht an, um hinzugehen, wohin sie wollte.
Die Berichte über die Erfahrungen und Visionen waren unterschiedlich, doch hatten sie alle eins gemeinsam: das seltsame und irritierende Geräusch, das der Trennung von Körper und Geist vorausgeht, dem der Schock folgt, eine schnelle Bewußtlosigkeit und dann der Frieden und die Freude darüber, in der Luft zu schweben, mit einem silbrigen Faden an den Körper gebunden, der sich unendlich dehnen ließ, obwohl Legenden (in Büchern natürlich) behaupteten, daß der Mensch sterben würde, wenn er den Silberfaden zerreißen ließ.
Sie hatte indes die Erfahrung gemacht, daß sie so weit weg gehen konnte, wie sie wollte, und der Faden niemals riß. Insgesamt aber waren die Bücher nützlich gewesen, hatten sie ihr doch beigebracht, ihre Astralreisen immer besser zu nutzen. Durch sie hatte sie beispielsweise gelernt, daß man, um zum nächsten Ort zu gelangen, sich dies wünschen, den Ort, an den man gelangen wollte, mental festlegen mußte. Anders als bei einer Reise mit einem Flugzeug, das von einem bestimmten Ort startet, eine bestimmte Entfernung zurücklegt und an einem bestimmten Ort landet, verläuft die Astralreise durch geheimnisvolle Tunnel. Man stellte sich einen Ort vor, trat mit unglaublicher Geschwindigkeit in den entsprechenden Tunnel ein, und der gewünschte Ort tauchte auf.
Die Bücher hatten Zedka auch ihre Angst vor den Wesen im Weltraum verlieren lassen. Denn sie hatte mit Hilfe der Bücher und aufgrund eigener Erfahrung bemerkt, daß dort neben einigen körperlosen Geistern auch viele Menschen herumirrten, die genauso lebendig waren wie sie und entweder die Technik beherrschten, aus dem Körper herauszutreten, oder das alles völlig unbewußt erlebten, weil sie an einem anderen Ort der Welt tief schliefen, während ihr Geist frei durch die Welt wanderte.
Zedka wußte, daß dies ihre letzte insulininduzierte Astralreise sein sollte, denn sie hatte soeben Dr. Igor in seinem Büro besucht und gehört, daß er sie schon bald entlassen würde. Darum wollte sie heute dieses eine Mal ausschließlich in Villete umherstreifen. Von dem Augenblick an, in dem sie das Anstaltstor durchschritt, würde sie nie wieder hierher zurückkehren, auch nicht im Geist, und sie wollte sich jetzt verabschieden.
Sich verabschieden. Das war der schwierigste Teiclass="underline" In einer psychiatrischen Anstalt gewöhnte man sich an die Freiheit, die es in einer Welt der Verrückten gab, und wurde süchtig danach. Man war für nichts verantwortlich, mußte nicht ums tägliche Brot kämpfen, sich mit öden Routineangelegenheiten herumplagen, konnte stundenlang ein Bild anschauen oder sich in absurden Kritzeleien verlieren. Alles war erlaubt, denn schließlich war man geisteskrank. Sie hatte selbst gesehen, daß die meisten Insassen sich besser fühlten, sobald sie die Anstalt betraten: Man mußte seine Symptome nicht mehr verbergen, und die >familiäre< Umgebung half einem, die eigenen Neurosen und Psychosen zu akzeptieren.
Anfangs war Zedka von Villete fasziniert gewesen und hatte schon erwogen, nach ihrer Genesung der >Bruderschaft< beizutreten. Doch dann begriff sie, daß sie, wenn sie es klug anstellte, auch draußen alles tun konnte, was sie wollte, während sie sich den Herausforderungen des Alltags stellte.
Man brauchte nur, wie es jemand einmal gesagt hatte, eine kontrollierte Verrücktheit< beizubehalten. Weinen, sich sorgen, sich ärgern wie jeder andere Mensch auch, dabei aber nie vergessen, daß dort oben unser Geist über alle schwierigen Situationen lacht. Bald schon würde sie wieder nach Hause zurückkehren, zu ihren Kindern, ihrem Mann. Dieser Teil des Lebens hatte auch seinen Reiz. Natürlich würde sie Schwierigkeiten haben, eine Arbeit zu finden, denn in einer kleinen Stadt wie Ljubljana sprach sich alles schnell herum, und viele wußten schon, daß sie in Villete eingeliefert worden war. Doch ihr Mann verdiente genug, um die Familie zu ernähren, und sie konnte in ihrer freien Zeit weiterhin ihre Astralreisen machen