ohne den gefährlichen Einfluß des Insulins.
Nur eines wollte sie nicht noch einmal erleben: das, was sie nach Villete gebracht hatte.
Die Depressionen.
Die Ärzte sagten immer, daß eine erst kürzlich isolierte Substanz, das Serotonin, die Stimmungen regulierte. Ein Mangel an Serotonin beeinflusse die Konzentrationsfähigkeit bei der Arbeit, habe Auswirkungen auf den Schlaf, den Appetit, die Fähigkeit, sich am Leben zu freuen. Fehlte es vollkommen, sei der Mensch von Verzweiflung, Pessimismus, vom Gefühl, zu nichts nütze zu sein, von übermäßiger Müdigkeit, Beklemmungen, Entscheidungsschwierigkeiten erfüllt und am Ende in eine ständige Traurigkeit getaucht, die zu vollkommener Apathie oder zum Selbstmord führe.
Andere, konservativere Ärzte behaupteten, daß drastische Veränderungen im Leben eines Menschen wie der Tod der Eltern oder eines anderen geliebten Wesens, Scheidung und eine Steigerung der Anforderungen bei der Arbeit oder innerhalb der Familie für die Depression verantwortlich seien. Einige moderne Untersuchungen, die auf der Anzahl der Einweisungen im Winter und im Sommer basierten, wiesen auf den Mangel an Sonnenlicht als einen Verursacher von Depression hin.
In Zedkas Fall war der Grund viel einfacher, als alle dachten: ein Mann aus ihrer Vergangenheit. Oder besser gesagt: Illusionen, die sie um einen Mann herum rankte, den sie vor langer Zeit kennengelernt hatte.
So etwas Dummes. Depression, Verrücktheit, alles wegen eines Mannes, von dem sie nicht einmal wußte, wo er wohnte und in den sie sich in ihrer Jugend hoffnungslos verliebt hatte. Denn Zedka hatte wie viele andere Mädchen ihres Alters die Erfahrung der unerfüllten Liebe machen müssen.
Nur anders als ihre Freundinnen, die von ihrem unerreichbaren Liebsten nur träumten, hatte Zedka beschlossen, weiterzugehen: Sie würde versuchen, ihn zu erobern. Er wohnte auf der anderen Seite des Ozeans, sie hatte alles verkauft, um zu ihm zu fahren. Er war verheiratet, sie akzeptierte die Rolle der Geliebten, schmiedete heimlich Pläne, wie sie ihn eines Tages zu ihrem Ehemann machen würde.
Er hatte nie Zeit für sie, doch sie schickte sich darein, Tag und Nacht im Zimmer eines billigen Hotels auf seine seltenen Anrufe zu warten.
Obwohl sie bereit war, im Namen der Liebe alles zu ertragen, scheiterte die Beziehung. Er hatte es ihr nie direkt gesagt, aber Zedka begriff eines Tages, daß sie nicht mehr gern gesehen war, und kehrte nach Slowenien zurück.
Einige Monate lang, in denen sie kaum aß, rief sie sich jeden Augenblick ins Gedächtnis zurück, den sie zusammen verbracht hatten, sah Tausende von Malen die Augenblicke der Freude und Lust im Bett wieder vor sich, suchte nach einem Weg, der ihr erlauben würde, an die Zukunft dieser Beziehung glauben zu können. Ihre Freunde machten sich Sorgen um sie, doch etwas in ihrem Herzen sagte Zedka, daß dies nur eine Phase war, die wieder vorübergehen würde: Das Wachsen eines Menschen verlangt seinen Preis, sie zahlte ihn klaglos. Und eines Morgens wachte sie auf und fühlte einen ungeheuren Lebenswillen, sie aß so viel wie schon lange nicht mehr und zog los, um sich eine Arbeit zu suchen.
Sie fand nicht nur eine Arbeit, sondern zog auch die Aufmerksamkeit eines gutaussehenden, intelligenten jungen Mannes auf sich, für den viele Frauen schwärmten. Ein Jahr später war sie mit ihm verheiratet.
Ihre Freundinnen waren zwar etwas neidisch, aber durchaus angetan. Zedka und ihr Mann zogen in ein hübsches Haus mit Garten am Fluß, der durch Ljubljana fließt. Sie bekamen Kinder und verreisten im Sommer nach Österreich oder nach Italien.
Als Slowenien beschloß, sich von Jugoslawien zu trennen, wurde Zedkas Mann zum Militär einberufen. Zedka war Serbin und dadurch automatisch ein >Feind<, und ihr Leben stand vor dem Zusammenbruch. In den folgenden Wochen, als die Truppen einander gegenüberstanden und niemand absehen konnte, welche Folgen die Unabhängigkeitserklärung haben und ob ihretwegen Blut vergossen werden würde, wurde sich Zedka ihrer Liebe bewußt. Sie betete die ganze Zeit zu einem Gott, der ihr bislang immer fern gewesen war und ihr dennoch jetzt als einziger Ausweg erschien: Sie gelobte den Heiligen und den Engeln alles, wenn sie ihr nur ihren Mann zurückgaben.
Und das geschah dann auch. Er kam zurück, die Kinder konnten in Schulen gehen, in denen die slowenische Sprache gelehrt wurde, und der drohende Krieg zog in die Nachbarrepublik Kroatien.
Einige Jahre gingen ins Land. Der Krieg zwischen Jugoslawien und Kroatien verlagerte sich nach Bosnien, und es kursierten Meldungen über serbische Massaker. Zedka fand es ungerecht, daß ein ganzes Volk an den Pranger gestellt wurde, nur weil einige den Verstand verloren hatten. Ihr Leben fand nun einen Sinn, den sie nie erwartet hatte: Sie verteidigte stolz und mit Bravour ihr Volk, indem sie in Zeitungen schrieb, im Fernsehen auftrat, Vorträge hielt.
Doch das alles brachte nichts. Immer noch glaubten die Ausländer, daß ausschließlich die Serben für die Grausamkeiten verantwortlich waren. Zedka erfüllte weiterhin ihre Pflicht und stand auch in dieser schweren Zeit zu ihren Brüdern.
Dabei fand sie Unterstützung von ihrem slowenischen Mann, ihren Kindern und all denen, die nicht von den Propagandamaschinen beider Seiten beeinflußt waren.
Eines Nachmittags kam sie vor der Statue von Preseren, des großen slowenischen Dichters, vorbei und begann über dessen Leben nachzudenken. Als Vierunddreißigjähriger war er eines Tages in eine Kirche getreten und hatte dort ein junges Mädchen gesehen, Julia Primic, in die er sich unsterblich verliebte. Wie einst die Minnesänger schrieb er ihr Gedichte und hoffte, sie zu heiraten.
Doch Julia stammte aus einer angesehenen Familie, und Preseren konnte sich ihr nach dieser kurzen Begegnung in der Kirche nie wieder nähern. Doch diese Begegnung gab ihm seine schönsten Gedichte ein, und um seinen Namen rankten sich Legenden. Die Statue des Dichters auf dem kleinen Hauptplatz von Ljubljana hat den Blick in eine bestimmte Richtung gewandt. Wer ihm folgt, entdeckt auf der anderen Seite des Platzes an der Wand eines Hauses die Büste einer Frau. Dort hatte Julia gewohnt. Preseren schaute selbst nach seinem Tod bis in die Ewigkeit auf seine unerfüllte Liebe.
Und wenn er nun mehr um sie gekämpft hätte?
Zedkas Herz tat einen Satz. Vielleicht war es die Vorahnung von etwas Bösem, des Unfalls eines ihrer Kinder. Sie raste nach Hause. Beide saßen vor dem Fernseher und aßen Popcorn.
Die Traurigkeit aber ging nicht vorüber. Zedka legte sich ins Bett, schlief beinahe zwölf Stunden, und als sie aufwachte, hatte sie keine Lust aufzustehen. Die Geschichte von Preseren hatte das Bild ihres ersten Geliebten, von dem sie nie wieder etwas gehört hatte, auferstehen lassen.
Und Zedka fragte sich: War ich beharrlich genug? Hätte ich die Rolle als Geliebte akzeptieren sollen, anstatt zu wollen, daß die Dinge sich so entwickelten, wie ich es erwartete?
Habe ich um meine erste Liebe genauso gekämpft wie für mein Volk?
Zedka redete sich zwar ein, daß sie genug gekämpft hatte, doch die Traurigkeit verging nicht. Was ihr früher wie das Paradies vorgekommen war, das Haus am Fluß, der Mann, den sie liebte, die Kinder, die vor dem Fernseher Popcorn aßen, wurde ihr nun zur Hölle.
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Inzwischen, nach vielen Astralreisen und vielen Begegnungen mit entwickelten Geistern, wußte Zedka, daß dies Unsinn war. Sie hatte ihre unerfüllte Liebe als Entschuldigung, als Vorwand genommen, um das Band zu dem Leben zu zertrennen, das sie führte und das weit davon entfernt war, das zu sein, was sie in Wahrheit für sich erwartete.