Doch vor zwölf Monaten war die Situation anders gewesen: Sie hatte wie wild versucht, den fernen Mann zu finden, hatte ein Vermögen für Ferngespräche ausgegeben, doch er wohnte nicht mehr in der Stadt von damals, und es war unmöglich gewesen, ihn zu lokalisieren. Sie verschickte Eilbriefe, die alle ungeöffnet wieder zurückkamen. Rief sämtliche Freundinnen und Freunde an, die ihn gekannt hatten, doch niemand hatte die leiseste Ahnung, was aus ihm geworden war.
Ihr Mann merkte nichts, und das machte sie rasend. Denn er mußte doch wenigstens etwas ahnen, eine Szene machen, sich beklagen, ihr drohen, daß er sie auf die Straße setzen würde.
Sie redete sich ein, sämtliche Telefonistinnen beim Fernamt, ihre Freundinnen, selbst der Postbote seien von ihm bestochen worden, damit sie so taten, als wäre alles ganz normal. Sie verkaufte den Schmuck, den er ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, und kaufte ein Flugticket, bis jemand sie davon überzeugte, daß Amerika riesengroß sei und es nicht lohne, dorthin zu fahren, wenn man nicht genau wußte, wo man mit Suchen anfangen wollte.
Eines Nachmittags legte sie sich ins Bett und litt so große Liebesqualen wie nie zuvor, selbst damals nicht, als sie in den langweiligen Alltag von Ljubljana zurückgekehrt war.
Sie verbrachte die ganze Nacht und die beiden folgenden Tage im Schlafzimmer. Am dritten Tag rief ihr Mann den Arzt. Wie rührend er war. Wie besorgt um sie! Begriff dieser Mann denn nicht, daß Zedka dabei war, sich mit jemand anderem zu treffen, Ehebruch zu begehen, ihr Leben einer geachteten Frau gegen das einer heimlichen Geliebten einzutauschen und Ljubljana, ihr Haus, ihre Kinder für immer zu verlassen?
Der Arzt kam, sie hatte einen Nervenzusammenbruch, schloß sich im Zimmer ein und machte erst wieder auf, nachdem er gegangen war. Eine Woche später hatte sie nicht einmal mehr Lust, ins Bad zu gehen, und verrichtete ihre Notdurft im Bett. Sie vermochte schon nicht mehr zu denken, ihr Kopf war voll von Erinnerungsfetzen an den Mann, der -
und davon war sie überzeugt — seinerseits auch erfolglos nach ihr suchte.
Ihr Mann wechselte — nervtötend großzügig — die Bettwäsche, strich ihr über den Kopf, sagte, es würde schon alles wieder werden. Die Kinder kamen nicht mehr ins Zimmer, seit sie einem grundlos eine Ohrfeige verpaßt und es dann geküßt und auf Knien angefleht hatte, ihr zu vergeben, und sie ihr Nachthemd in Fetzen gerissen hatte.
In der Woche darauf, in der sie jegliche Nahrung verweigerte, die man ihr einflößte, zwischen Traum und Wirklichkeit hin und her pendelte, nächtelang wach lag und tagelang schlief, waren zwei Männer ohne anzuklopfen in ihr Zimmer gekommen. Einer hielt sie fest, der andere gab ihr eine Spritze, und als sie wieder zu sich kam, war sie in Villete.
»Depression«, hatte sie den Arzt zu ihrem Mann sagen hören. »Manchmal wird sie durch ganz banale Dinge ausgelöst, zum Beispiel durch einen Mangel an Serotonin.« Von der Decke des Krankensaals aus sah Zedka den Krankenpfleger mit einer Spritze in der Hand kommen. Das Mädchen war noch immer da, stand vor dem Körper, entsetzt über den leeren Blick. Einige Augenblicke lang war Zedka versucht, ihr alles zu erzählen, doch dann überlegte sie es sich anders. Die Menschen lernen nie aus dem, was man ihnen erzählt, sie müssen es selber herausfinden.
Der Krankenpfleger stach die Nadel in ihre Vene und injizierte Glukose. Wie von einem riesigen Arm gezogen löste sich ihr Geist von der Decke des Krankensaals, sauste in Höchstgeschwindigkeit durch einen schwarzen Tunnel und kehrte in den Körper zurück.
»Hallo Veronika!«
Das Mädchen fuhr zusammen.
»Geht es dir gut?«
»Ja. Diese gefährliche Behandlung habe ich zum Glück überlebt, eine weitere wird es nicht geben.«
»Woher weißt du das? Hier gelten die Wünsche des Patienten nichts.«
Zedka wußte es, weil sie auf ihrer Astralreise im Büro von Dr. Igor gewesen war.
»Ich weiß es nun mal, erklären kann ich es nicht. Erinnerst du dich an meine erste Frage?«
»Könnten Sie mir sagen, was es heißt, verrückt zu sein?«
»Genau. Diesmal antworte ich dir nicht mit einem Gleichnis: Die Verrücktheit ist die Unfähigkeit, seine Ideen zu vermitteln. Als wärest du in einem fremden Land. Du siehst alles, verstehst, was um dich herum geschieht, kannst aber nichts erklären und keine Hilfe bekommen, weil du die Landessprache nicht verstehst.«
»So ist es uns allen schon einmal ergangen.«
»Auf die eine oder andere Art sind wir alle verrückt.«
Jenseits des vergitterten Fensters war der Himmel von Sternen übersät, hinter den Bergen ging ein im zunehmenden Viertel stehender Mond auf. Die Dichter liebten den Vollmond, schrieben Tausende von Versen über ihn, doch Veronika liebte den zunehmenden Mond, weil er größer werden, seine ganze Oberfläche mit Helligkeit füllen würde, bevor er unausweichlich wieder abnahm.
Sie wäre gern zum Klavier im Aufenthaltsraum gegangen und hätte diese Nacht mit einer der schönen Sonaten gefeiert, die sie am Konservatorium gelernt hatte. Während sie in den Himmel blickte, durchströmte sie ein unbeschreibliches Wohlgefühl, als hätte die Unendlichkeit des Universums auch ihre eigene Unendlichkeit offenbart. Doch eine Stahltür und eine lesende Frau standen zwischen ihr und der Erfüllung ihres Wunsches. Zudem spielte niemand zu dieser Nachtzeit Klavier. Sie würde die ganze Nachbarschaft aufwecken.
Veronika lachte. Die »Nachbarschaft«, das waren die Krankensäle voller Verrückter, und die Verrückten waren mit Schlafmitteln vollgepumpt. Das Wohlgefühl hielt jedoch an. Sie stand auf und ging zu Zedkas Bett, doch die schlief tief und fest, vielleicht erholte sie sich von der fürchterlichen Erfahrung, die sie durchgemacht hatte.
»Geh ins Bett zurück«, sagte die Krankenschwester.
»Brave Mädchen schlafen und träumen von Engelchen oder ihrem Liebsten.«
»Behandeln Sie mich nicht wie ein Kind. Ich bin keine zahme Verrückte, die vor allem Angst hat. Ich bin wütend, habe hysterische Anfälle, mache weder vor meinem noch vor dem Leben anderer halt. Und heute bin ich besonders schlecht drauf. Ich habe den Mond angeschaut und brauche jetzt jemanden, mit dem ich sprechen kann.«
Die Krankenschwester schaute sie überrascht an.
»Haben Sie Angst vor mir?« hakte Veronika nach. »In ein oder zwei Tagen werde ich sterben. Was habe ich zu verlieren?«
»Warum machen Sie nicht einen kleinen Spaziergang, junge Dame, damit ich mein Buch zu Ende lesen kann?«
»Weil es ein Gefängnis gibt und eine Kerkermeisterin, die so tut, als läse sie ein Buch, nur um den anderen zu zeigen, daß sie eine intelligente Frau ist. In Wahrheit achtet sie aber auf jede Bewegung auf der Station und hütet die Schlüssel wie einen Schatz. Die Bestimmungen verlangen das, und sie gehorcht, weil sie so eine Autorität zeigen kann, die ihr im Alltag mit ihrem Mann und ihren Kindern fehlt.«
Veronika zitterte, wußte aber nicht genau, weshalb.
»Schlüssel?« fragte die Krankenschwester. »Die Tür steht immer offen. Glauben Sie, ich schließe mich hier mit einer Bande Geistesgestörter ein?«
>Die Tür soll offen sein? Vor ein paar Tagen wollte ich hier raus, und diese Frau ist sogar mit mir ins Bad gegangen, um mich zu überwachen. Was erzählt sie mir da?<
»So wörtlich habe ich's nicht gemeint«, fuhr die Krankenschwester fort. »Tatsache ist, daß wir hier wegen der Schlaftabletten nicht viel Kontrolle brauchen. Zittern Sie vor Kälte?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, das hat was mit meinem Herzen zu tun.«
»Wenn Sie wollen, machen Sie doch Ihren Spaziergang.«
»Eigentlich möchte ich gern Klavier spielen.«
»Der Aufenthaltsraum liegt abseits, und Ihr Klavier wird niemanden stören. Machen Sie, was Sie wollen.«
Veronikas Zittern wurde zu einem leisen, schüchternen, unterdrückten Schluchzen. Sie kniete nieder und legte den Kopf in den Schoß der Frau und weinte hemmungslos.