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Die Krankenschwester legte ihr Buch zur Seite und streichelte ihr Haar und ließ zu, daß Traurigkeit und Weinen von allein verebbten. Fast eine halbe Stunde blieben die beiden so: Eine weinte, ohne zu sagen, weshalb, die andere tröstete, ohne zu wissen, warum.

Schießlich hörte das Schluchzen auf. Die Krankenschwester zog Veronika hoch, nahm sie am Arm und führte sie zur Tür.

»Ich habe eine Tochter in Ihrem Alter. Als Sie hier angekommen sind, voller Infusionsballons und Schläuchen, habe ich mich gefragt, was ein hübsches junges Mädchen, das das Leben noch vor sich hat, wohl bewogen hat, sich umzubringen.

Dann kursierte eine Reihe von Gerüchten. Über den Brief, den Sie zurückgelassen haben und von dem ich nie angenommen habe, er sei der wahre Grund. Und über die wenigen Tage, die dir wegen deines Herzleidens noch verbleiben. Das Bild meiner Tochter ging mir nicht aus dem Kopf: Wenn sie nun beschließt, so etwas zu tun?

Warum gehen einige Menschen gegen die natürliche Ordnung der Dinge an, die verlangt, daß man um jeden Preis überleben will?«

»Deshalb habe ich geweint«, sagte Veronika. »Als ich die Tabletten genommen habe, wollte ich jemanden umbringen, den ich haßte. Ich wußte nicht, daß es in mir andere Veronikas gab, die ich lieben könnte.«

»Was bringt einen Menschen dazu, sich selbst zu hassen?«

»Vielleicht Feigheit. Oder die ewige Angst, etwas falsch zu machen, nicht das zu tun, was die anderen von einem erwarten.

Vor ein paar Minuten war ich fröhlich, ich hatte mein Todesurteil vergessen. Als ich mir aber der Lage bewußt wurde, in der ich mich befinde, erschrak ich.«

Die Krankenschwester öffnete die Tür, und Veronika ging hinaus.

>Sie hätte mich das nicht fragen dürfen. Was will sie verstehen, weshalb ich geweint habe? Weiß sie denn nicht, daß ich ein vollkommen normaler Mensch bin mit den gleichen Wünschen und Ängsten wie alle, und daß diese Art Frage, jetzt, da es zu spät ist, Panik in mir aufkommen läßt?< Während sie durch die Korridore ging, die mit denselben schwachen Birnen beleuchtet waren wie der Krankensaal, bemerkte Veronika, daß es zu spät war: Sie konnte ihre Angst nicht mehr beherrschen.

>Ich muß mich wieder in den Griff kriegen. Ich bin jemand, der das, was er sich vorgenommen hat, zu Ende führt.< Es stimmte, vieles in ihrem Leben hatte sie bis zum bitteren Ende gelebt — doch nur das, was unwichtig war wie zum Beispiel einen Streit verlängern, den eine Bitte um Entschuldigung beendet hätte, oder einen Mann, in den sie verliebt war, nicht mehr anrufen, nur weil sie glaubte, daß diese Beziehung zu nichts führte. Sie war dann unnachgiebig, wenn es am einfachsten war, wenn es darum ging, Standfestigkeit und Gleichgültigkeit zu demonstrieren, obwohl sie in Wahrheit eine zerbrechliche Frau war, die sich zudem nie groß hervorgetan hatte — weder als Schülerin noch im Schulsport und auch nicht als Friedensstifterin zu Hause.

Sie hatte ihre kleinen Unzulänglichkeiten zwar überwunden, aber letztlich bei dem versagt, was wichtig und grundlegend war. Es gelang ihr, die unabhängige Frau herauszukehren, obwohl sie sich nach jemandem sehnte, an den sie sich anlehnen konnte. Wo immer sie hinkam, zog sie die Blicke auf sich, und doch verbrachte sie am Ende die Nächte meist allein im Kloster vor dem Fernseher, dessen Programme nicht einmal richtig eingestellt waren. Sie hatte sich ihren Freunden gegenüber immer als beneidenswerte Frau hingestellt und ihre ganze Energie darauf verwendet, sich diesem Selbstbild entsprechend zu verhalten. Daher verblieb ihr keine Kraft mehr, sie selbst zu sein, ein Mensch, der wie alle anderen auf der Welt andere Menschen brauchte, um glücklich zu sein. Doch die anderen Menschen waren so schwierig! Sie reagierten unerwartet, verschlossen, und spielten — genau wie sie — die ewig Blasierten. Wenn einmal jemand kam, der dem Leben gegenüber offener war, dann lehnten sie ihn entweder ab oder verhöhnten ihn als »naiven Trottel«. Nun, sie hatte vielleicht viele Leute mit ihrer Kraft und Entschlossenheit beeindruckt, doch wohin hatte sie das geführt?

In die Leere. In die völlige Einsamkeit. Nach Villete.

In den Warteraum des Todes.

Fast hätte sie den Selbstmordversuch bereut, doch sie wies diesen Gedanken entschieden von sich. Denn jetzt fühlte sie etwas, was sie bisher nie zugelassen hatte: Haß.

Haß. Etwas fast so reales wie Wände oder Klaviere oder Krankenschwestern. Die zerstörende Kraft, die aus ihrem Körper strömte, war beinahe greifbar. Sie ließ das Gefühl zu, ohne sich darum zu scheren, ob es gut war oder nicht.

Sie hatte genug von Selbstbeherrschung, Masken, angepaßtem Verhalten. Veronika wollte sich in den letzten zwei oder drei Tagen ihres Lebens endlich einmal gehenlassen.

Sie hatte einem älteren Mann eine Ohrfeige verpaßt, sich mit dem Krankenpfleger angelegt, war bewußt nicht nett gewesen und hatte nicht mit den anderen geredet, als sie allein sein wollte, und nun konnte sie sogar hassen, ohne gleich alles um sich herum kurz und klein zu schlagen, damit sie nicht für den Rest ihres Lebens mit Beruhigungs-mitteln in ein Spitalbett verfrachtet würde.

In diesem Augenblick haßte sie alles. Sich selbst, die Welt, den Stuhl, der vor ihr stand, die kaputte Heizung auf dem Flur, die vollkommenen Menschen ebenso wie die Kriminellen.

Sie war in einer psychiatrischen Anstalt und konnte Dinge fühlen, die andere Menschen vor sich selbst verbargen.

Denn wir sind alle dazu erzogen worden, zu lieben, zu akzeptieren, zu versuchen, einen Ausweg zu finden, Konflikte zu vermeiden. Veronika haßte alles, doch vor allem haßte sie die Art, wie sie ihr Leben geführt hatte, ohne je all die Hunderte von anderen Veronikas zu entdecken, die in ihr lebten und die interessant, verrückt, neugierig, mutig, risikofreudig waren.

Irgendwann begann sie auch Haß auf die Person zu fühlen, die ihr der liebste Mensch auf der Welt war, auf ihre Mutter. Die vorbildliche Ehefrau, die den ganzen Tag arbeitete und abends erst noch das Geschirr wusch, die ihr Leben opferte, damit die Tochter eine gute Ausbildung, Klavierund Geigenunterricht bekam, sich wie eine Prinzessin kleiden, Designerklamotten kaufen konnte, während sie selber weiterhin in dem geflickten alten Kleid herumlief.

>Wie kann ich jemanden hassen, der mir nur Liebe gegeben hat?< dachte Veronika verwirrt und wollte ihr Gefühl zurücknehmen. Doch es war bereits zu spät, der Haß war entfesselt und hatte die Tore zu ihrer persönlichen Hölle aufgestoßen. Sie haßte die Liebe, die ihr gegeben worden war, weil sie keine Gegenleistung verlangt hatte — was absurd, unlogisch und unnatürlich ist.

Die Liebe, die keine Gegenleistung erwartete, erfüllte sie mit Schuldgefühlen, mit dem Wunsch, den in sie gesetzten Erwartungen zu entsprechen, auch wenn das bedeutete, aufzugeben, was sie für sich erträumt hatte. Es war eine Liebe, die ihr jahrelang eine heile Welt vorgegaukelt hatte, ohne zu bedenken, daß sie eines Tages aufwachen und der Wirklichkeit wehrlos ausgeliefert sein würde.

Und ihr Vater? Sie haßte auch ihren Vater. Denn im Gegensatz zu ihrer Mutter, die die ganze Zeit arbeitete, wußte er zu leben, nahm sie mit in Bars und ins Theater, wo sie sich amüsierten, und als sie noch jünger war, hatte sie ihn heimlich geliebt, nicht als Vater, sondern als Mann. Sie haßte ihn, weil er immer so bezaubernd war und so offen für andere, außer für ihre Mutter, die einzige, die es wirklich verdiente.

Sie haßte alles. Die Bibliothek mit ihren Bergen von Büchern, die einem das Leben erklärten, die Schule, für die sie nächtelang Algebra büffeln mußte, obwohl sie außer ein paar Lehrern und Mathematikern niemanden kannte, der Algebra brauchte, um glücklich zu sein. Warum mußten Schüler so viel Algebra oder Geometrie und diesen ganzen Berg nutzloser Dinge lernen?

Veronika schob die Tür zum Aufenthaltsraum auf, ging zum Klavier, öffnete den Deckel, schlug mit aller Kraft auf die Tasten. Ein verrückter, gellender Mißklang hallte durch den leeren Raum, traf die Wände und prallte als schriller Lärm, der sie bis ins Innerste aufwühlte, an ihr Ohr zurück. Und doch entsprach er genau ihrer Stimmung.