Sie schlug wieder auf die Tasten, und noch einmal hallten die dissonanten Töne wider.
>Ich bin verrückt. Ich darf es sein. Ich darf hassen und auf dem Klavier herumhämmern. Geisteskranke haben noch nie Töne ordentlich aneinandergereiht.< Sie schlug ein-, zwei-, zehn-, zwanzigmal in die Tasten, und mit jedem Mal wurde ihr Haß kleiner, bis er vollkommen verschwunden war.
Da überkam sie wieder ein tiefer Frieden, und Veronika schaute wieder in den gestirnten Himmel hinauf zum zunehmenden Mond — ihrem Lieblingsmond -, der den Platz, an dem sie sich befand, in mildes Licht tauchte. Erneut hatte sie das Gefühl, daß die Unendlichkeit und die Ewigkeit Hand in Hand gingen, und man brauchte nur eine von ihnen anzuschauen — wie das grenzenlose Universum -, um die Gegenwart des anderen zu bemerken, die Zeit, die niemals aufhört, nicht vergeht, die Gegenwart bleibt, in der alle Geheimnisse des Lebens enthalten sind. Auf dem Weg von der Krankenstation zum Aufenthaltsraum hatte sie ihrem Haß so hemmungslos Luft gemacht, daß kein bißchen Groll übriggeblieben war. Sie hatte zugelassen, daß ihre unterdrückten negativen Gefühle endlich an die Oberfläche kamen.
Sie hatte sie ausgelebt, und nun wurden sie nicht mehr gebraucht und konnten verschwinden.
Sie verharrte still und gab sich ganz dem Augenblick hin.
Und fühlte, wie der Haß entwich und die Liebe in sie einströmte.
Dann drehte sie sich zum Mond und spielte ihm zu Ehren eine Sonate. Und der Mond hörte ihr zu und war stolz auf sie, was wiederum die Sterne eifersüchtig machte. Daher spielte sie dann eine Musik für die Sterne, eine für den Garten und noch eine für die Berge, die sie im Dunkeln nur erahnen konnte.
Als sie gerade die Musik für den Garten spielte, erschien ein anderer Verrückter: Eduard, ein unheilbarer Schizophrener.
Sie erschrak nicht, im Gegenteil, sie lächelte ihn an, und zu ihrer Überraschung lächelte er zurück.
Auch in seine ferne Welt, die ferner war als der Mond, konnte die Musik eindringen und Wunder tun.
Ich muß mir einen neuen Schlüsselring kaufen<, dachte Dr.
Igor, während er die Tür seines kleinen Konsultations — zimmers in Villete öffnete. Das kleine Metallwappen, das am Schlüsselbund hing, war zu Boden gefallen.
Dr. Igor bückte sich und hob es auf. Was würde er mit diesem Anhänger machen, der das Stadtwappen von Ljubljana trug? Am besten wegwerfen. Aber er könnte ihn auch reparieren, eine neue Lederschlaufe dafür machen lassen.
Oder er könnte ihn seinem Enkel zum Spielen schenken.
Beides erschien ihm absurd: Ein Schlüsselanhänger war billig, und sein Enkel zeigte nicht das geringste Interesse an Wappen, er verbrachte seine Zeit vor dem Fernseher oder spielte mit italienischen Computerspielen. Dennoch warf er ihn nicht weg: Er steckte ihn in die Tasche und wollte später entscheiden, was er damit tun würde.
Eben aus diesem Grunde war er der Direktor einer Anstalt und kein Kranker. Weil er nämlich lange überlegte, bis er eine Entscheidung fällte.
Er machte Licht — denn je weiter der Winter fortschritt, desto später wurde es Tag. Wohnungswechsel, Scheidungen und mangelnde Helligkeit waren Hauptursachen für Depressionen.
Dr. Igor hoffte, daß der Winter bald vorbei und die Hälfte seiner Probleme aus der Welt geschafft wären.
Er warf einen Blick auf seinen Terminkalender. Er mußte etwas finden, damit Eduard nicht an Unterernährung starb.
Dessen Schizophrenie machte ihn unberechenbar, jetzt hatte er ganz aufgehört zu essen. Dr. Igor hatte schon intravenöse Ernährung angeordnet, doch das konnte nicht ewig so weitergehen.
Eduard war ein kräftiger junger Mann von 28 Jahren, doch auch mit der Infusion würde er am Ende bis aufs Skelett abmagern.
Was würde Eduards Vater sagen, einer der bekanntesten Botschafter der jungen slowenischen Republik und einer der führenden Köpfe bei den schwierigen Verhandlungen mit Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre? Dieser Mann war jahrelang jugoslawischer Beamter gewesen und hatte seine Kritiker überlebt, die ihm vorwarfen, er diene dem Feind; heute stand er immer noch im diplomatischen Dienst, nur vertrat er jetzt ein anderes Land. Er war ein mächtiger, einflußreicher, von allen gefürchteter Mann.
Dr. Igor beschäftigte das einen Augenblick lang — wie zuvor der Schlüsselanhänger -, doch dann schlug er sich den Gedanken aus dem Kopf: Dem Botschafter war es gleichgültig, ob sein Sohn gut oder schlecht aussah. Er hatte nicht vor, ihn zu offiziellen Anlässen mitzunehmen oder sich von ihm in die Teile der Welt begleiten zu lassen, in die er als Vertreter der Regierung geschickt wurde. Eduard war in Villete, und dort würde er immer bleiben, zumindest solange sein Vater sein enormes Gehalt verdiente.
Dr. Igor beschloß, die intravenöse Ernährung abzusetzen.
Eduard würde noch ein wenig weiter abnehmen, bis er von sich aus wieder essen wollte. Sollte sich die Lage verschlechtern, würde er einen Bericht abfassen und den Fall dem für Villete zuständigen Ärztegremium überantworten.
»Wenn du nicht in Schwierigkeiten geraten willst, teile immer die Verantwortung«, hatte ihm sein Vater geraten, der ebenfalls Arzt war und dem mehrere Patienten gestorben waren, ohne daß er je Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen hätte.
Nachdem Dr. Igor Weisung erteilt hatte, diese Behandlung von Eduard abzusetzen, wandte er sich dem nächsten Fall zu. Laut Bericht war die Patientin Zedka Mendel soweit genesen, daß sie entlassen werden konnte. Dr. Igor wollte das mit eigenen Augen nachprüfen. Schließlich gab es nichts Schlimmeres für einen Arzt als Beschwerden von den Familienmitgliedern ehemaliger Patienten. Und die gab es fast immer. Nach ihrem Aufenthalt in einer psychiatrischen Heilanstalt gelang es nämlich nur wenigen Patienten, sich wieder ins normale Leben einzufügen.
Das lag nicht an Villete. Auch nicht an den anderen Anstalten sonstwo auf der Welt; das Problem der Reintegration war überall gleich schwierig. So wie das Gefängnis den Gefangenen nicht bessert, ihm im Gegenteil nur beibringt, noch mehr Verbrechen zu begehen, so führen die psychiatrischen Anstalten dazu, daß die Kranken sich an eine vollkommen unwirkliche Welt gewöhnen, in der alles erlaubt ist und niemand Verantwortung für sein Tun tragen muß.
Es blieb nur ein Ausweg: selbst eine Behandlungsmethode zur Heilung der Geisteskrankheit zu entdecken. Dr.
Igor war dabei, eine Methode zu erarbeiten, die die Welt der Psychiatrie revolutionieren sollte. In einer Heilanstalt vermischten sich unheilbar Kranke mit solchen, die nur kurz dort verblieben; letztere leiteten ein soziales Abgleiten ein, das sich, wenn es einmal in Gang gesetzt war, nicht mehr aufhalten ließ. Diese Zedka Mendel würde wieder ins Krankenhaus zurückkehren. Diesmal aus freiem Willen. Sie würde über nicht vorhandene Krankheiten klagen, nur um wieder in die Nähe von Menschen zu kommen, die sie besser zu verstehen schienen als die draußen.
Wenn es ihm jedoch gelang, das Gift zu bekämpfen, das in seinen Augen für die Verrücktheit verantwortlich war, dann würde Dr. Igors Name in die Geschichte eingehen, und jeder würde wissen, wo Slowenien lag. Diese Woche war ihm in Gestalt einer gescheiterten Selbstmörderin eine Chance vom Himmel gefallen. Diese Chance durfte er sich um kein Geld der Welt entgehen lassen.
Dr. Igor war zufrieden. Obwohl er aus ökonomischen Gründen Behandlungen dulden mußte, die von der Ärzteschaft längst abgelehnt wurden — wie beispielsweise der Insulinschock -, so kämpfte er in Villete, ebenfalls aus ökonomischen Gründen, für neue psychiatrische Behandlungsmethoden.
Erstens hatte er genug Zeit und Personal, um das Gift zu erforschen, und zweitens duldeten — wohlgemerkt: duldeten, nicht erlaubten es — die Besitzer, daß eine Gruppe, die >Bruderschaft< genannt wurde, in der Anstalt bleiben durfte. Aus humanitären Gründen, so führten sie an, sollte dem kürzlich geheilten Patienten gestattet werden, selbst zu bestimmen, wann er reif war, um wieder in die Welt hinauszutreten.