Eine Gruppe von Patienten hatte daraufhin beschlossen, in Villete zu bleiben wie in einem exklusiven Hotel oder in einem Club, in dem sich Leute mit gemeinsamen Neigungen versammeln. Dr. Igor konnte so die Verrücken und die Gesunden zusammenleben lassen und dazu beitragen, daß letztere erstere positiv beeinflußten. Damit die Dinge nicht aus dem Ruder liefen und die Verrückten die Geheilten wieder »ansteckten«, mußten die Mitglieder der >Bruderschaft< die Anstalt mindestens einmal am Tag verlassen.
Dr. Igor wußte, daß die von den Aktionären angeführten humanitären Gründe, aufgrund deren die Geheilten in der Anstalt bleiben konnten, nur ein Vorwand waren. Sie fürchteten, daß Sloweniens kleine charmante Hauptstadt Ljubljana zu wenig reiche Verrückte hergab, um diesen teuren, modernen Betrieb aufrechtzuerhalten. Außerdem verfügte das öffentliche Gesundheitswesen über erstklassige psychiatrische Anstalten, die Villete Konkurrenz machten.
Als die Aktionäre die alte Kaserne in ein Krankenhaus umwandelten, hatten sie als Zielgruppe primär die vom Krieg mit Jugoslawien Betroffenen im Sinn gehabt. Doch der Krieg währte nur kurz. Die Aktionäre hatten darauf gesetzt, daß der Krieg wiederaufgenommen würde, doch das traf nicht ein.
Jüngste Untersuchungen hatten jedoch ergeben, daß Kriege wohl geistige Schäden hervorriefen, doch weniger als Stress, Langeweile, Erbkrankheiten, Einsamkeit oder Liebeskummer.
Wenn eine Gemeinschaft vor einem großen Problem stand, beispielsweise einem Krieg, einer Hyperinflation oder einer Seuche, stieg die Anzahl der Selbstmorde leicht an, während Depressionen, Paranoia und Psychosen deutlich abnahmen. Sobald das Problem überwunden war, normalisierte sich alles wieder, Dr. Igor zufolge ein deutliches Zeichen dafür, daß Verrücktheit ein Luxus war, den man sich nur unter bestimmten Voraussetzungen leisten konnte.
Er hatte eine andere kürzlich veröffentliche Untersuchung vor Augen. Sie stammte aus Kanada, das eine amerikanische Zeitung als das Land mit dem höchsten Lebensstandard bezeichnet hatte. Dr. Igor las darin:
Dem statistischen Amt Kanadas zufolge waren psychiatrisch behandelt worden:
40 % der Menschen zwischen 15 und 34 Jahren 33 % der Menschen zwischen 35 und 54 Jahren 20 % der Menschen zwischen 55 und 65 Jahren. Jeder fünfte Kanadier litt an irgendeiner psychischen Störung.
Jeder achte Kanadier war mindestens einmal in seinem Leben wegen Geistesstörungen in einem Krankenhaus.
>Ausgezeichneter Markt, besser als unserer<, dachte er. >Je glücklicher die Menschen sein können, desto unglücklicher werden sie.<
Dr. Igor prüfte noch einige Fälle, wobei er sorgfältig überlegte, welche er dem Ärzterat vorlegen und über welche er allein entscheiden wollte. Unterdessen war es ganz Tag geworden, und er löschte das Licht.
Dann ließ er den ersten Besucher eintreten: die Mutter jener Patientin, die einen Selbstmordversuch gemacht hatte.
»Ich bin Veronikas Mutter. Wie geht es ihr?«
Dr. Igor überlegte, ob er ihr die Wahrheit sagen und ihr unnötige Überraschungen ersparen sollte — schließlich hieß seine Tochter auch Veronika -, zog es dann aber vor zu schweigen.
»Wir wissen es noch nicht«, log er. »Wir brauchen noch eine Woche.« »Ich weiß nicht, warum Veronika das getan hat«, sagte die Frau, die weinend vor ihm saß. »Wir sind liebevolle Eltern, wir haben kein Opfer gescheut, um ihr die bestmögliche Ausbildung zu geben. Obgleich mein Mann und ich bessere und schlechtere Zeiten miteinander hatten, blieben wir zusammen, um mit gutem Beispiel voranzugehen und ihr zu zeigen, daß man um jeden Preis durchhalten muß -«
»Und trotzdem hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen
«, unterbrach sie Dr. Igor. »Das mag Sie überraschen, gnädige Frau, doch genauso ist es. Die Menschen sind außerstande, das Glück zu begreifen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Statistiken für Kanada zeigen.«
»Kanada?«
Die Frau schaute ihn überrascht an. Dr. Igor merkte, daß er sie abgelenkt hatte, und fuhr fort:
»Schauen Sie, Sie kommen nicht hierher, um zu erfahren, wie es Ihrer Tochter geht, sondern um sich dafür zu entschuldigen, daß sie einen Selbstmordversuch unternommen hat. Wie alt ist sie?«
»Vierundzwanzig.«
»Oder anders gesagt, sie ist eine reife Frau mit Erfahrung, die gut weiß, was sie will, und in der Lage ist, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Was hat das mit Ihrer Ehe oder mit den Opfern zu tun, die Sie und Ihr Mann gebracht haben?
Wie lange lebt sie schon allein?«
»Seit sechs Jahren.«
»Sehen Sie? Unabhängig bis an die Wurzel der Seele.
Dennoch machen sich alle wegen allem Vorwürfe, weil ein österreichischer Arzt, Dr. Sigmund Freud — ich bin sicher, Sie haben schon einmal von ihm gehört -, über krankhafte Beziehungen zwischen Eltern und Kindern geschrieben hat.
Glauben die Indianer, ein Kind, das zum Mörder geworden ist, sei ein Opfer der elterlichen Erziehung? Antworten Sie!«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, entgegnete die Frau, die sich immer mehr über den Arzt wunderte. Vielleicht war er ja von seinen Patienten angesteckt worden.
»Nun, ich werde Ihnen die Antwort geben«, sagte Dr.
Igor. »Die Indios glauben, daß der Mörder schuldig ist, nicht die Gesellschaft, nicht seine Eltern, auch nicht seine Vorfahren. Begehen die Japaner Selbstmord, weil eines ihrer Kinder Drogen nimmt, auf die Straße geht und herumballert?
Die Antwort ist dieselbe: nein. Und sehen Sie, soweit ich weiß, begehen Japaner für nichts und wieder nichts Selbstmord. Neulich habe ich von einem jungen Japaner gelesen, der sich umgebracht hat, weil er die Aufnahmeprüfung für die Universität nicht schaffte.«
»Könnte ich vielleicht mit meiner Tochter sprechen?«
fragte die Frau, die sich weder für Japaner, noch Indianer oder Kanadier interessierte.
»Ja, gleich«, sagte Dr. Igor, der sich nicht gern unterbrechen ließ. »Doch vorher möchte ich, daß Sie eines verstehen: Von einigen schweren pathologischen Fällen einmal abgesehen, werden Menschen verrückt, wenn sie versuchen, aus der Routine auszubrechen. Haben Sie verstanden?«
»Ich habe das sehr gut verstanden«, antwortete sie. »Und wenn Sie glauben, daß ich nicht in der Lage wäre, mich um sie zu kümmern, seien Sie ganz beruhigt: Ich habe nie versucht, mein Leben zu verändern.«
»Wie gut«, bemerkte Dr. Igor mit gespielter Erleichterung. »Haben Sie sich schon einmal vorgestellt, wie es wäre, wenn wir nicht gezwungen wären, jeden Tag in unserem Leben dasselbe zu tun? Wenn wir beispielsweise beschließen würden, nur dann zu essen, wenn wir Hunger haben, wie dann die Hausfrauen und die Restaurants damit zurechtkämen?«
>Es wäre viel normaler, nur dann zu essen, wenn wir Hunger haben<, dachte die Frau, sagte aber nichts, weil sie fürchtete, daß man ihr sonst verbieten würde, mit Veronika zu sprechen.
»Das wäre eine Katastrophe«, sagte sie. »Ich bin Hausfrau und weiß, wovon ich spreche.«
»Da haben wir das Frühstück, das Mittagessen, das Abendessen: Wir müssen immer zur selben Zeit aufstehen und uns einmal in der Woche ausruhen. Weihnachten gibt es, damit man Geschenke machen, Ostern, damit man drei Tage am See verbringen kann. Würden Sie sich freuen, wenn Ihr Mann, weil ihn plötzlich eine Welle der Leidenschaft erfaßt, beschließt, Sie im Wohnzimmer zu lieben?«
>Wovon redet dieser Mann da eigentlich? Ich bin hierhergekommen, um meine Tochter zu sehen!< überlegte die Frau.
»Ich wäre traurig«, antwortete sie vorsichtig und hoffte, die richtige Antwort gegeben zu haben.
»Großartig«, brüllte Dr. Igor. »Geliebt wird nur im Bett.
Sonst würden wir ein schlechtes Beispiel abgeben und Anarchie säen.«