»Kann das geheilt werden?« fragte sie und hätte gern mehr über Schizophrenie erfahren.
»Man kann es unter Kontrolle bringen. Noch weiß man nicht genau, was in der Welt der Verrückten geschieht. Alles ist neu, und die Therapie ändert sich alle zehn Jahre. Ein Schizophrener ist jemand, der eine natürliche Neigung dazu hat, sich aus dieser Welt zu entfernen, bis irgend etwas — das je nach Fall schwerwiegend oder nebensächlich sein kann — dazu führt, daß er sich eine Realität nur für sich allein schafft. Der Fall kann sich bis zu vollkommener Abwesenheit entwickeln. Das nennen wir dann Katatonie. Oder es gibt eine Besserung, die dem Patienten erlaubt zu arbeiten, ein praktisch normales Leben zu führen. Das hängt allein von der Umwelt ab.«
»Eine Realität nur für sich allein schaffen«, wiederholte Veronika. »Was ist denn überhaupt Realität?«
»Sie ist das, von dem die meisten glauben, daß sie so sein sollte. Nicht unbedingt besser, nicht logischer, doch den kollektiven Wünschen angepaßt. Sehen Sie, was ich da um den Hals trage?«
»Eine Krawatte.«
»Sehr gut. Ihre Antwort ist logisch, kohärent, die eines ganz normalen Menschen: eine Krawatte!
Ein Verrückter würde jedoch sagen, daß ich ein buntes, lächerliches, nutzloses, auf komplizierte Weise geschlungenes Stück Stoff um den Hals trage, das die Beweglichkeit des Kopfes einschränkt und uns zwingt, tiefer zu atmen, damit Luft in die Lungen gelangt. Wenn ich in der Nähe eines Ventilators bin und nicht aufpasse, kann dieses Stück Stoff mich erwürgen.
Wenn ein Verückter mich fragt, wozu eine Krawatte gut ist, muß ich ihm antworten: zu überhaupt nichts. Nicht einmal zum Verschönern, weil sie heute zum Symbol der Versklavung, der Macht, der Distanz geworden ist. Die Nützlichkeit der Krawatte besteht darin, nach Hause zu kommen und sie abzunehmen und das Gefühl zu genießen, daß wir uns von etwas befreit haben, von dem wir nicht einmal wissen, was es ist.
Doch rechtfertigt dieses Gefühl der Erleichterung die Krawatte? Nein. Dennoch wird, wenn ich einen Verrückten und einen normalen Menschen frage, was das ist, derjenige als gesund erachtet werden, der mir antwortet: eine Krawatte. Gleichgültig, wer es richtig sieht oder wer recht hat.«
»Das heißt, Sie haben aus meiner Antwort geschlossen, daß ich nicht verrückt bin, denn ich habe den richtigen Namen dieses bunten Stücks Stoff angegeben.«
>Nein, du bist nicht verrückt<, dachte Dr. Igor, der auf diesem Gebiet eine Autorität war und an dessen Sprechzimmerwänden mehrere Diplome hingen. Sich gegen das eigene Leben vergehen, das war etwas Menschliches. Er kannte viele Menschen, die das getan hatten, und dennoch weiterhin dort draußen lebten, Unschuld und Normalität vortäuschten, nur weil sie nicht die skandalöse Methode des Selbstmordes gewählt hatten. Sie töteten sich ganz allmählich, indem sie sich mit dem vergifteten, das Dr. Igor Vitriol nannte.
Das Vitriol war eine giftige Substanz, deren Symptome er in Gesprächen mit Männern und Frauen erkannt hatte. Jetzt schrieb er über diese Frau eine Abhandlung, die er der Naturwissenschaftlichen Akademie von Slowenien vorlegen wollte. Das war ein wichtiger Schritt weiter auf dem Gebiet der Geisteskrankheit, seit Dr. Pinel den Kranken die Ketten hatte abnehmen lassen und die Welt der Medizin mit der Aussage verblüffte, einige von ihnen könnten geheilt werden.
Genau wie die Libido — eine für den Sexualtrieb verantwortliche chemische Reaktion, die Dr. Freud zwar erkannt hatte, jedoch kein Laboratorium je isolieren konnte -wurde das Vitriol vom Körper von Menschen abgesondert, die sich in einer Angstsituation befanden. Auch wenn es in den modernen spektrographischen Tests nicht nachzuweisen war, so war es doch leicht am Geschmack zu erkennen, der weder süß noch salzig war — am bitteren Geschmack. Dr. Igor, der noch unerkannte Entdecker dieser tödlichen Substanz, hatte ihr den Namen eines Giftes gegeben, das früher von Kaisern, Königen und Liebhabern jeder Art benutzt wurde, um eine unliebsame Person zu beseitigen.
Das waren noch Zeiten gewesen, königlich-kaiserliche Zeiten: Damals lebte und starb man noch romantisch. Der Mörder lud sein Opfer zu einem köstlichen Abendessen, der Diener trat mit zwei schönen Gläsern ein. In einem war Vitriol unter das Getränk gemischt. Wieviel Gefühl lag in den Gesten des Opfers — es nahm das Glas, sagte einige süße oder aggressive Worte, trank dann, als handle es sich um einen köstlichen Tropfen, blickte den Gastgeber erstaunt an und fiel wie vom Blitz getroffen zu Boden!
Doch hatten sicherere Tötungsmittel wie Revolver, Bakterien und so weiter dieses Gift, das heutzutage nur teuer und sehr schwer zu bekommen war, abgelöst. Dr. Igor, der romantisch veranlagt war, hatte den fast vergessenen Namen gerettet und ihn einer Krankheit der Seele gegeben, die er diagnostiziert hatte und mit deren Entdeckung er alsbald die Welt zu überraschen gedachte.
Es war merkwürdig, daß niemand das Vitriol als tödliches Gift erwähnt hatte, obwohl die meisten von ihm befallenen Menschen seinen Geschmack identifizierten und den Vergiftungsprozeß als »Verbitterung« bezeichneten. Alle Wesen hatten Bitterkeit in ihrem Organismus. In mehr oder weniger großen Mengen, so wie wir auch fast alle den Tuberkulosebazillus in uns tragen. Doch diese Krankheiten können dem Patienten nur dann etwas anhaben, wenn er geschwächt ist. Im Falle der Bitterkeit wird das Terrain für die Krankheit vorbereitet, wenn jemand Angst vor der sogenannten
»Realität« entwickelt.
Bestimmte Menschen erhöhen im Bemühen, eine eigene heile, unangreifbare Welt zu schaffen, ihre Abwehr gegen die Außenwelt — fremde Menschen, neue Orte, neue Erfahrungen.
Ihr Inneres bleibt leer. Und dort drängt die Bitterkeit hinein und verursacht unumkehrbare Schäden.
Zielscheibe der Bitterkeit oder des Vitriols, wie Dr. Igor es lieber nennt, ist die Willenskraft. Die von der Krankheit der Verbitterung befallenen Menschen verlieren die Lust an allem, und in wenigen Jahren können sie schon nicht mehr 97
aus ihrer Welt heraus, denn sie haben unendlich viel Kraft dafür aufgewandt, hohe Mauern aufzurichten, damit die Realität das wurde, was sie sich darunter gern vorstellten.
Indem sie jeden Angriff von außen vermieden, hatten sie auch das innere Wachstum eingeschränkt. Sie gingen weiterhin zur Arbeit, sahen fern, beklagten sich über den Verkehr und darüber, daß sie Kinder hatten, doch alles geschah automatisch, ohne allzuviel Gefühlsaufwand, weil sie ja letztlich alles unter Kontrolle hatten.
Das große Problem der Vergiftung durch Bitterkeit war, daß sich auch die Leidenschaften — Haß, Liebe, Verzweiflung, Begeisterung, Neugier — nicht mehr äußerten. Nach einiger Zeit hatte der Verbitterte keine Wünsche mehr. Hatte er weder den Wunsch zu leben noch zu sterben, und gerade darin lag das Problem.
Aus diesem Grund waren Helden und Verrückte immer besonders faszinierend für die Verbitterten: Sie hatten weder Angst vor dem Leben noch vor dem Tod. Helden wie Verrückte ließen sich von Gefahren nicht beirren, sie gingen ihren Weg weiter, auch wenn alle sagten, sie sollten dies nicht tun. Der Verrückte brachte sich um, der Held gab für eine Sache sein Leben — beide aber starben, und die Verbitterten verbrachten viele Nächte damit, die Absurdität der beiden Tode zu kommentieren. Nur in diesen Augenblik-ken fand der Verbitterte Kraft, über die Mauer der Abwehr zu klettern und sich etwas umzuschauen: Doch bald schon wurden seine Hände und seine Füße wieder müde, und er kehrte zum alltäglichen Leben zurück.
Der chronisch Verbitterte bemerkte seine Krankheit nur einmal in der Woche: am Sonntagnachmittag. Dann, wenn weder seine Arbeit noch die Routine ihm halfen, die Symptome zu lindern, bemerkte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Denn der Frieden dieser Nachmittage war die reinste Hölle, die Zeit verging nicht, und er war ständig gereizt.
Doch dann wurde es wieder Montag, und der Verbitterte vergaß seine Symptome, auch wenn er schimpfte, daß er niemals Zeit hätte, sich auszuruhen, und sich darüber beklagte, daß die Wochenenden immer so schnell vergingen.