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Diese Krankheit hatte jedoch einen Vorteil. Sie war gesellschaftlich gesehen bereits zur Regel geworden, und die Leute mußten nicht mehr interniert werden, es sei denn, die Vergiftung war so weit fortgeschritten, daß dieser Mensch für seine Umwelt zur Belastung wurde. Aber der größte Teil der Verbitterten konnte draußen weiterleben, ohne die Gesellschaft zu bedrohen, da sie wegen der Mauern, die sie um sich errichtet hatten, vollkommen isoliert waren, obwohl es so aussah, als nähmen sie am sozialen Leben teil.

Dr. Sigmund Freud hatte die Libido entdeckt und eine Behandlung der aus ihr entstehenden Probleme: die Psychoanalyse.

Dr. Igor mußte nun, nachdem er das Vorhandensein des Vitriols entdeckt hatte, beweisen, daß auch hier eine Heilung möglich war. Er wollte, daß sein Name in die Geschichte der Medizin einging, obwohl er sich bewußt war, welche Schwierigkeiten ihn erwarteten, wenn er seine Ideen durchsetzen wollte. Denn die »Normalen« waren mit ihrem Leben zufrieden, sie würden niemals eingestehen, daß sie krank waren, während die »Kranken« eine riesige Industrie von Anstalten, Laboratorien, Kongressen und so weiter in Gang hielten.

>Ich weiß, daß die Welt meine Anstrengungen nicht anerkennen wird<, sagte er sich und war stolz darauf, daß er unverstanden war. Das war schließlich der Preis, den Genies zu zahlen hatten.

»Was ist mit Ihnen?« fragte das Mädchen. »Sie scheinen in die Welt Ihrer Patienten abgedriftet zu sein.«

Dr. Igor ignorierte den Stachel.

»Sie können jetzt gehen«, sagte er.

Veronika wußte nicht, ob es Tag oder Nacht war, bei Dr.

Igor hatte das Licht gebrannt, doch das war morgens immer so. Dennoch sah sie, als sie auf den Flur trat, den Mond und stellte fest, daß sie länger als geglaubt geschlafen hatte.

Auf dem Weg zur Krankenstation bemerkte sie ein gerahmtes Fotos an der Wand. Es war der Hauptplatz von Ljubljana — doch noch ohne die Statue des Dichters Preseren

-, auf dem Paare spazierengingen, wahrscheinlich an einem Sonntag.

Sie schaute das Datum nach: Sommer 1910.

Sommer 1910. Da waren Menschen, deren Enkel inzwischen schon gestorben waren, in einem bestimmten Augenblick ihres Lebens festgehalten. Die Frauen trugen weite Röcke, die Männer hatten alle einen Hut auf, trugen einen Gehrock, Krawatte (oder ein buntes Stück Stoff, wie die Verrückten es nannten), Gamaschen und einen Regenschirm unter dem Arm.

Und die Hitze? Es mußte gleich heiß sein wie heutzutage im Sommer, 35° im Schatten. Was hätten damals die Leute gedacht, wenn ein Engländer in Bermudas und in Hemdsärmeln, einer für die Hitze passenden Kleidung, erschienen wäre?

>Ein Verrückter!<

Sie hatte durchaus verstanden, was Dr. Igor sagen wollte.

Ebensogut hatte sie verstanden, daß sie ihr ganzes Leben lang zwar geliebt und behütet gewesen war, daß aber etwas fehlte, um diese Liebe zu einem Segen zu machen: Dazu hätte sie sich etwas mehr Verrücktheit zugestehen müssen.

Ihre Eltern würden sie irgendwie immer weiter lieben, doch sie würde nie wagen, den Preis für ihren Traum zu zahlen, weil sie fürchtete, sie zu verletzen. Dieser Traum war tief in ihrem Gedächtnis vergraben, obwohl ihn von Zeit zu Zeit ein Konzert oder eine schöne Platte wieder zum Leben erweckte. Doch jedesmal, wenn ihr Traum wiedererweckt wurde, war das Gefühl der Frustration so groß, daß sie ihn sofort wieder begrub.

Veronika wußte von Kindesbeinen an, welches ihre wahre Berufung war: Pianistin sein!

Sie hatte dies mit zwölf in der ersten Musikstunde gefühlt.

Ihre Lehrerin erkannte ihr Talent und ermunterte sie, das Klavierspielen zu ihrem Beruf zu machen. Doch als Veronika glücklich über einen gewonnenen Wettbewerb meinte, daß sie alles andere aufgeben wolle, um nur noch Klavier zu spielen, hatte die Mutter ihr mit einem liebevollen Blick erklärt: »Niemand lebt nur vom Klavierspielen, mein Herz.«

»Aber du hast mich doch Unterricht nehmen lassen!«

»Damit du deine künstlerische Begabung entwickelst, nur deshalb. Ehemänner schätzen klavierspielende Frauen, und du könntest dich bei einer Feier hervortun. Vergiß diese Geschichte mit der Pianistenkarriere, daß du Pianistin werden willst. Studiere Jura. Rechtsanwältin, das ist ein Beruf mit Zukunft.«

Veronika folgte dem Rat ihrer Mutter, weil sie darauf vertraute, daß diese genug Lebenserfahrung hatte, um die Realität richtig einzuschätzen. Sie beendete ihre Schule, ging an die Universität, verließ die Universität mit einem Diplom und ausgezeichneten Noten, doch am Ende bekam sie nur eine Anstellung als Bibliothekarin.

>Ich hätte verrückter sein sollen.< Doch wie die meisten Menschen entdeckte sie das zu spät.

Sie hatte sich gerade umgewandt, um ihren Weg fortzusetzen, als jemand sie am Arm festhielt. Das starke Beruhigungsmittel, das man ihr gegeben hatte, rann noch durch ihre Adern; deshalb reagierte sie nicht, als Eduard, der Schizophrene, sie sanft in eine andere Richtung führte — zum Aufenthaltsraum.

Der Mond stand immer noch im ersten Viertel, und Veronika hatte sich auf Eduards stumme Bitte hin schon ans Klavier gesetzt, als sie eine Stimme aus dem Speisesaal hörte.

Jemand sprach mit ausländischem Akzent, und Veronika konnte sich nicht daran erinnern, diesen Akzent schon einmal in Villete gehört zu haben.

»Ich möchte jetzt nicht Klavier spielen, Eduard. Ich will wissen, was in der Welt geschieht, was nebenan geredet wird, wer dieser Fremde ist.«

Eduard lächelte. Vielleicht hatte er kein Wort von dem verstanden, was sie gesagt hatte. Doch sie erinnerte sich an Dr. Igor: Schizophrene können in zwei unterschiedlichen Realitäten aus und ein gehen.

»Ich werde sterben«, fuhr sie fort und hoffte, ihre Worte würden zu ihm durchdringen. »Der Tod hat heute mein Gesicht mit seinem Flügel berührt. Und wird morgen oder bald schon an meine Tür klopfen. Du darfst dich nicht daran gewöhnen, jeden Abend dem Klavierspiel zuzuhören.

Niemand darf sich an etwas gewöhnen, Eduard. Sieh maclass="underline" Ich fand schon wieder Gefallen an der Sonne, an den Bergen, an den Problemen. Ich habe sogar schon akzeptiert, daß am fehlenden Sinn in meinem Leben niemand Schuld hatte außer ich selbst. Ich wollte wieder auf den Platz von Ljubljana zurück, Haß und Liebe fühlen, Verzweiflung und Langeweile, all diese einfachen, närrischen Dinge, die Teil des Alltags sind, einem aber das Leben schmackhaft machen.

Wenn ich eines Tages hier herauskommen könnte, würde ich mir zugestehen, verrückt zu sein, weil alle Welt es ist, wobei die Schlimmsten die sind, die nicht wissen, daß sie es sind, weil sie nur wiederholen, was die anderen ihnen auftragen.

Doch all dies ist unmöglich, verstehst du? Genauso wenig kannst du den ganzen Tag darauf warten, daß es Nacht wird und eine der Anstaltsinsassinnen Klavier spielt — denn das wird schon bald aufhören. Meine Welt und deine Welt gehen ihrem Ende zu.«

Sie erhob sich, berührte zärtlich das Gesicht des jungen Mannes und ging in den Speisesaal.

Als sie die Tür öffnete, stand sie vor einem ungewöhnlichen Szenario: Tische und Stühle waren an die Wand gerückt, und dadurch wurde eine große leere Fläche in der Mitte gebildet. Dort saßen die Mitglieder der Bruderschaft auf dem Boden und hörten einem Mann zu, der Anzug und Krawatte trug. »...und dann haben sie den großen Sufi-Meister Nasrudin eingeladen, einen Vortrag zu halten«, sagte er.

Als die Tür aufging, sahen alle Veronika an. Der Mann im Anzug sagte zu ihr:

»Setzen Sie sich!«

Sie setzte sich auf den Boden neben die weißhaarige Frau, Mari, die bei ihrem ersten Treffen so aggressiv gewesen war.

Zu ihrer Überraschung lächelte ihr Mari einladend zu.

Der Mann im Anzug fuhr fort:

»Nasrudin beraumte den Vortrag für zwei Uhr nachmittags an, und es war ein Erfolg: Die zweitausend Karten wurden alle verkauft, und mehr als sechshundert Menschen mußten draußen bleiben, wo sie den Vortrag in einer Fernsehübertragung verfolgen konnten.