Um Punkt vier Uhr kam ein Assistent von Nasrudin herein, um zu sagen, daß sich der Vortrag aufgrund höherer Gewalt etwas verzögern würde. Einige erhoben sich empört, wollten ihr Geld zurück und verließen den Saal. Doch es blieben trotzdem viele Menschen im und vor dem Saal zurück.
Ab vier Uhr gingen, da der Sufi-Meister immer noch nicht gekommen war, allmählich immer mehr Leute und ließen sich ihr Geld zurückgeben: Es war Büroschluß und Zeit, nach Hause zu gehen. Um sechs Uhr waren von den zweitausend Zuhörern nur noch einhundert übrig.
In diesem Augenblick trat Nasrudin ein. Er wirkte vollkommen betrunken und fing an, mit einer hübschen jungen Frau zu flirten, die in der ersten Reihe saß.
Nachdem die erste Überraschung verflogen war, wurden die Leute ärgerlich: Wie konnte sich dieser Mann, nachdem sie vier Stunden auf ihn gewartet hatten, jetzt so aufführen?
Empörtes Gemurmel wurde laut, doch der Sufi-Meister scherte sich nicht darum. Er erklärte weiterhin laut brüllend, wie sexy das junge Mädchen doch sei, und lud sie ein, ihn nach Frankreich zu begleiten.«
>Was für ein Meister<, dachte Veronika. >Wie gut, daß ich nie an so etwas geglaubt habe.<
»Nachdem er die Leute, die sich empörten, beschimpft hatte, versuchte Nasrudin aufzustehen, doch er fiel schwer zu Boden. Entsetzt beschlossen die Leute wegzugehen und meinten, daß dies nichts weiter als Scharlatanerei sei und sie dieses erniedrigende Schauspiel den Zeitungen berichten wollten.
Neun Leute blieben im Saal. Und kaum hatte die Gruppe der Empörten den Saal verlassen, da erhob sich Nasrudin.
Er war nüchtern, seine Augen verströmten Licht, und ihn umgab eine Aura von Würde und Weisheit. >Ihr, die noch hier seid, seid die, die mich hören sollt<, sagte er. >Ihr habt die zwei härtesten Prüfungen auf dem spirituellen Weg bestanden: die Geduld, auf den richtigen Augenblick zu warten, und den Mut, euch nicht von dem enttäuschen zu lassen, was ihr vorgefunden habt. Euer Lehrer werde ich sein.< Und Nasrudin brachte ihnen einige der Sufi-Techniken bei.«
Der Mann machte eine Pause und zog eine fremdartige Flöte aus der Tasche.
»Wir wollen jetzt etwas ausruhen, und dann machen wir unsere Meditation.«
Die Gruppe erhob sich. Veronika wußte nicht, was sie machen sollte. »Steh auch auf!« sagte Mari, die sie bei der Hand nahm.
»Wir haben fünf Minuten Pause.«
»Ich gehe lieber, ich möchte nicht stören.«
Mari zog sie in eine Ecke.
»Hast du denn überhaupt nichts gelernt, nicht einmal angesichts der Nähe des Todes ? Hör auf, ständig zu glauben, daß du jemanden störst! Wenn die Leute sich gestört fühlen, werden sie es schon sagen! Und wenn sie nicht den Mut dazu haben, ist das ihr Problem!«
»An dem Tag, als ich mich euch genähert habe, tat ich etwas, was ich noch nie zuvor gewagt hatte.«
»Und dann hast du dich von einem einfachen Verrücktenscherz abschrecken lassen! Warum bist du nicht einfach weitergegangen? Was hattest du zu verlieren?«
»Meine Würde. Dort zu sein, wo ich nicht willkommen war.«
»Was ist denn schon Würde? Das bedeutet doch nur, daß alle finden, daß du brav, wohlerzogen und voller Nächstenliebe bist? Respektiere die Natur, schau dir mehr Tierfilme an und achte darauf, wie sie um ihren Raum kämpfen. Wir haben uns alle über diesen Klaps gefreut, den du dem einen von uns gegeben hast.«
Veronika blieb keine Zeit mehr, um um irgendwelchen Raum zu kämpfen. Sie wechselte das Thema und fragte, wer dieser Mann sei.
»Du besserst dich«, lachte Mari. »Du fragst, ohne zu fürchten, man könnte dich für indiskret halten. Dieser Mann ist ein Sufi-Meister.«
»Was heißt >Sufi<?«
»Wolle.« Veronika verstand das nicht. Wolle?
»Der Sufismus ist eine spirituelle Tradition der Derwische, bei der die Meister nicht darauf aus sind, Weisheit zu zeigen, und die Schüler kreiselnd tanzen und in Trance fallen.«
»Und wozu ist das gut?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Doch unsere Gruppe hat beschlossen, alle verbotenen Erfahrungen zu machen. Mein ganzes Leben lang hat uns die Regierung erzogen und uns erklärt, daß die spirituelle Suche nur darin besteht, den Menschen von seinen realen Problemen zu entfernen. Jetzt antworte mir: Findest du nicht, daß das Leben zu verstehen ein reales Problem ist?«
Ja, das war ein reales Problem. Außerdem war sie sich nicht mehr sicher, was das Wort >Realität< bedeutete.
Der Mann im Anzug, der laut Mari ein Sufi-Meister war, bat alle, sich im Kreis hinzusetzen. Aus einer der Vasen im Speisesaal nahm er alle Blumen bis auf eine rote Rose heraus und stellte die Vase mit der einzelnen Blume in die Mitte des Kreises.
»Schau, was wir geschafft haben«, sagte Veronika. »Irgendwann hat ein Verrückter gemeint, daß es möglich sei, Blumen im Winter zu züchten, und heute haben wir in ganz Europa das ganze Jahr über Rosen. Glaubst du, daß ein Sufi-Meister bei all seinem Wissen fähig ist, so etwas zu tun?«
Mari schien ihre Gedanken zu erraten.
»Heb dir die Kritik für später auf.«
»Ich werd's versuchen. Weil mir nur noch die Gegenwart bleibt, die wie gesagt, kurz ist.«
»Sie ist alles, was wir haben, und sie ist immer sehr kurz, obwohl einige meinen, daß sie eine Vergangenheit besitzen, in der sie Dinge anhäufen, und eine Zukunft, in der sie noch mehr anhäufen werden. Doch da wir gerade vom gegenwärtigen Augenblick reden — hast du schon häufig masturbiert?«
Obwohl das Beruhigungsmittel immer noch wirkte, erinnerte sich Veronika an den ersten Satz, den sie in Villete gehört hatte.
»Als ich in Villete eingeliefert wurde und noch an Beatmungsschläuche angeschlossen war, habe ich deutlich jemanden fragen gehört, ob ich masturbiert werden wolle.
Was sollte das? Warum denkt ihr hier an so etwas?«
»Hier drinnen und dort draußen. Nur, in unserem Fall müssen wir es nicht verbergen.«
»Hast etwa du mich danach gefragt?«
»Nein. Aber ich finde, du solltest herausfinden, bis wohin deine Lust gehen kann. Nächstes Mal wirst du mit etwas Geduld deinen Partner dahin bringen, anstatt zu warten, daß er dich dahin bringt. Auch wenn du nur noch zwei Tage zu leben hast, finde ich, daß du diese Welt nicht verlassen solltest, ohne deine Lust ganz ausgelebt zu haben.«
»Dafür kommt nur ein Schizophrener in Frage, der jetzt darauf wartet, mich Klavierspielen zu hören.«
»Jedenfalls sieht er gut aus.«
Der Mann im Anzug bat um Stille und unterbrach so das Gespräch. Er wies sie an, sich auf die Rose zu konzentrieren, ihren Verstand leer werden zu lassen.
»Die Gedanken werden zurückkommen, doch versucht dies zu verhindern. Ihr habt zwei Alternativen: Euren Verstand zu beherrschen oder von ihm beherrscht zu werden. Die zweite Alternative habt ihr bereits gelebt, habt euch von Ängsten, Neurosen, Unsicherheit mitreißen lassen, denn der Mensch hat diese Tendenz zur Selbstzerstörung.
Verwechselt Verrücktheit nicht mit dem Verlust der Kontrolle.
Vergeßt nicht, in der Sufi-Tradition wird der oberste Meister, Nasrudin, von allen >der Verrückte< genannt. Und gerade weil man ihn in seiner Stadt für geisteskrank hält, kann Nasrudin alles sagen, was er denkt, und tun, wonach ihm ist. So war es früher, im Mittelalter, mit den Hofnarren.
Sie konnten den König auf alle Gefahren hinweisen, die ihm die Minister aus Angst, ihre Stellung zu verlieren, nicht zu sagen wagten.
So müßt auch ihr sein: Bleibt verrückt, doch verhaltet euch so wie normale Menschen. Geht das Risiko ein, anders zu sein, doch lernt dies zu tun, ohne die Aufmerksamkeit auf euch zu lenken. Konzentriert euch auf diese Blume und laßt zu, daß euer wahres Ich sich manifestiert.«