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»Was ist das wahre Ich?« unterbrach ihn Veronika. Vielleicht wußten die anderen es ja alle, doch das war gleichgültig.

Sie sollte sich weniger darum kümmern, ob sie die anderen störte.

Der Mann schien über die Unterbrechung überrascht zu sein, doch er antwortete:

»Das ist das, was du bist, und nicht das, was die anderen aus dir gemacht haben.«

Veronika beschloß, die Übung zu machen, und konzentrierte sich ganz darauf herauszufinden, wer sie war. Während dieser Tage in Villete hatte sie Dinge gefühlt, die sie vorher noch nie so intensiv erlebt hatte — Haß, Liebe, den Wunsch zu leben, Angst, Neugier. Vielleicht hatte Mari ja recht. Kannte sie den Orgasmus wirklich? Oder war sie immer nur dahin gelangt, wohin die Männer sie bringen wollten?

Der Mann im Anzug begann die Flöte zu spielen. Ganz allmählich beruhigte die Musik ihre Seele, und es gelang ihr, sich auf die Rose zu konzentrieren. Es mochte die Wirkung des Beruhigungsmittels sein, doch Tatsache war, daß sie sich, seit sie das Sprechzimmer von Dr. Igor verlassen hatte, sehr wohl fühlte.

Sie wußte, daß sie bald sterben würde. Doch warum sollte sie sich fürchten? Das würde nicht weiterhelfen und auch nicht den tödlichen Herzanfall verhindern können.

Das beste war, diese Tage oder Stunden, die ihr noch blieben, zu nutzen und zu tun, was sie zuvor noch nie getan hatte.

Die Musik war sanft, und das gedämpfte Licht im Speisesaal schuf eine beinahe religiöse Atmosphäre. Religion: Warum versuchte sie nicht, ganz in sich einzutauchen und zu sehen, was von ihrem Glauben noch übrig war?

Weil die Musik sie auf eine andere Seite führte: den Kopf leer werden lassen, nicht mehr über alles nachdenken und nur SEIN: Veronika gab sich ganz hin, betrachtete die Rose, sah, wer sie war, es gefiel ihr, und sie bedauerte, so überstürzt gehandelt zu haben.

Als die Meditation vorüber und der Sufi-Meister gegangen war, blieb Mari noch eine Weile im Speisesaal und unterhielt sich mit den anderen Mitgliedern der Bruderschaft. Veronika hatte über Müdigkeit geklagt und sich zurückgezogen. Das Beruhigungsmittel, das sie morgens genommen hatte, war schließlich stark genug gewesen, um einen Stier einzuschläfern, und trotzdem hatte sie so viel Kraft gehabt, so lange wach zu bleiben.

»So ist nun mal die Jugend, sie stellt ihre eigenen Grenzen auf und fragt nicht danach, ob der Körper das mitmacht.

Und der Körper macht immer mit.«

Mari war nicht müde: Sie hatte lange geschlafen und dann einen Spaziergang in Ljubljana gemacht. Dr. Igor verlangte von den Mitgliedern der Bruderschaft, daß sie einmal am Tag Villete verließen. Sie war ins Kino gegangen und war über einem todlangweiligen Film über eine verkrachte Ehe in ihrem Sessel eingeschlafen. Gab es denn wirklich kein anderes Thema? Warum mußten bloß immer die gleichen Geschichten erzählt werden — Ehemann mit Geliebter, Ehemann mit Frau und krankem Kind, Ehemann, Geliebte und krankes Kind? Es gab doch wichtigere Dinge auf der Welt zu erzählen.

Die Unterhaltung im Speisesaal dauerte nicht lange. Die Meditation hatte die Gruppe entspannt, und alle beschlossen, in die Schlafsäle zu gehen. Nur Mari wollte auf einen Spaziergang hinaus in den Garten. Auf dem Weg kam sie am Aufenthaltsraum vorbei und sah, daß das Mädchen doch nicht schlafen gegangen war: Es spielte für Eduard, den Schizophrenen, der wahrscheinlich die ganze Zeit neben dem Klavier gewartet hatte. Die Verrückten ließen wie die Kinder erst dann locker, wenn sie ihren Wunsch erfüllt sahen.

Die Luft war eiskalt. Mari ging wieder hinein, holte sich etwas Warmes zum Überziehen und trat dann wieder hinaus.

Draußen, fern von den Augen der anderen, steckte sie sich eine Zigarette an. Sie rauchte ruhig und ohne Schuldgefühl, während sie über das Mädchen, über die Klaviermusik, die sie hörte, und das Leben außerhalb der Mauern von Villete nachdachte, das sich für alle immer schwieriger gestaltete.

Mari fand, daß diese Schwierigkeit nicht am Chaos oder an fehlender Organisation oder Anarchie lag, sondern an dem Zuviel an Ordnung. Die Gesellschaft hatte immer mehr Regeln und Gesetze, die den Regeln widersprachen, und neue Regeln, um Gesetzen zu widersprechen. Das verschreckte die Menschen, und sie taten keinen Schritt mehr außerhalb der unsichtbaren Regeln, die das Leben aller lenkten.

Mari verstand etwas davon. Sie hatte vierzig Jahre ihres Lebens als Anwältin gearbeitet, bis ihre Krankheit sie nach Villete gebracht hatte. Gleich zu Anfang ihrer Karriere hatte sie schnell ihre naive Sicht von Recht und Gerechtigkeit begriffen, daß die Gesetze nicht geschaffen worden waren, um Probleme zu lösen, sondern um jeden Streit endlos in die Länge zu ziehen.

Schade, daß Allah, Jehova, Gott — egal, welchen Namen man ihm auch gab, nicht in der heutigen Welt lebte. Denn wäre das so, dann wären wir noch immer im Paradies und Er noch immer damit beschäftigt, Berufung einzulegen, Rechtshilfeersuchen, gerichtliche Unterlassungsbefehle und vorläufige Maßnahmen zu formulieren und in unzähligen Verhandlungen seine Absicht darzulegen, Adam und Eva aus dem Paradies zu vertreiben, nur weil sie ein willkürliches Gesetz ohne juristisches Fundament übertreten hatten, das nämlich, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen.

Wenn Er nicht wollte, daß dies geschah, warum hatte Er dann diesen Baum mitten in den Garten gepflanzt und nicht außerhalb der Mauern des Paradieses? Als Verteidigerin des Paares hätte Mari Gott bestimmt wegen verwaltungstechnischer Auslassung verklagt, weil er den Baum an den falschen Ort gepflanzt, ihn nicht mit Schildern versehen und eingezäunt und überhaupt nichts für die Sicherheit getan hatte, wodurch alle gefährdet wurden.

Mari könnte ihn auch wegen Anstiftung zum Verbrechen anklagen: Er hatte sogar Adams und Evas Aufmerksamkeit auf den Ort gelenkt, an dem der Baum stand. Hätte er nichts gesagt, würden Generationen um Generationen über die Erde gehen, ohne daß sich jemand für die verbotene Frucht interessiert hätte, denn wahrscheinlich stand der Baum in einem Hain unter vielen gleichen Bäumen und war somit nichts Besonderes.

Doch Gott hatte das nicht getan. Im Gegenteil, er schrieb das Gesetz und brachte es fertig, jemanden davon zu überzeugen, es zu übertreten, nur damit er die Strafe erfinden konnte. Er wußte, daß Adam und Eva am Ende von so viel Vollkommenheit gelangweilt sein und früher oder später Seine Geduld auf die Probe stellen würden. Er legte sich auf die Lauer, denn vielleicht war auch er, der Allmächtige Gott, gelangweilt davon, daß alles perfekt funktionierte.

Hätte Eva nicht vom Apfel gegessen, was wäre dann in diesen Milliarden Jahren geschehen?

Nichts.

Nachdem das Gesetz übertreten worden war, hat Gott, der allmächtige Richter, noch eine Verfolgung inszeniert, als kenne er nicht alle nur möglichen Verstecke. Während die Engel zusahen und sich über den Spaß amüsierten (ihr Leben mußte ebenfalls schrecklich langweilig sein, seit Luzifer den Himmel verlassen hatte), ging Er los. Mari stellte sich diese Stelle in der Bibel wie einen guten Thriller vor: Gottes Schritte, die erschreckten Blicke, die das Paar wechselte, die Füße, die plötzlich vor dem Versteck innehielten.

»Wo bist du?« hatte Gott gefragt.

»Ich habe Deinen Schritt im Garten gehört und hatte Angst und versteckte mich, weil ich nackt bin«, hatte Adam geantwortet, ohne zu wissen, daß er mit dieser Aussage seine Tat gestanden hatte.

Schluß. Mit einem einfachen Trick, indem er so tat, als wisse er nicht, wo Adam war und warum er sich auf der Flucht befand, hatte Gott bekommen, was er wollte. Doch damit im Publikum der Engel auch nicht der geringste Zweifel blieb, ließ er nicht locker.

»Woher weißt du, daß du nackt bist?« hatte Gott gesagt, weil er wußte, daß es auch auf diese Frage nur eine mögliche Antwort gab: »Weil ich vom Baum gegessen habe, der mir erlaubt, dies zu begreifen.«

Mit dieser Frage zeigte Gott den Engeln, daß er ein gerechter Gott war und das Paar aufgrund stichhaltiger Beweise verdammte. Von nun an war es nicht mehr wichtig zu wissen, ob die Schuld bei der Frau lag oder daran, daß sie um Vergebung baten. Gott mußte ein Exempel statuieren, damit kein anderes Wesen — sei es himmlisch oder irdisch -es wagte, Seinen Beschlüssen zuwiderzuhandeln.