Gott vertrieb das Paar, seine Kinder haben am Ende auch für das Verbrechen bezahlt (so wie es heute noch mit den Kindern von Straffälligen geschieht), und das Rechtssystem wurde erfunden: Gesetz, Gesetzesübertretung (auch wenn das Gesetz völlig unlogisch und absurd war), Verfahren (bei dem der Erfahrenere den Unwissenderen besiegte) und Strafe.
Da die ganze Menschheit ohne Recht auf Berufung verurteilt wurde, beschlossen die Menschen für den Fall, daß Gott erneut seine Willkür walten ließ, Verteidigungsmechanismen zu schaffen. Doch im Laufe der Jahrtausende haben die Menschen so viele Rechtsmittel erfunden, daß sie die Dosis übertrieben. Jetzt war das Rechtswesen nur noch ein Durcheinander von Klauseln, von Jurisprudenz, widersprüchlichen Texten, die niemand mehr recht verstand.
Und zwar so wenig, daß, als es Gott sich anders überlegte und Seinen Sohn auf die Welt schickte, um die Welt zu retten, dieser in die Maschen des Gesetzes geriet, das Er erfunden hatte.
Das Durcheinander von Gesetzen führte dann dazu, daß der Sohn am Kreuz endete. Es war kein einfacher Prozeß: von Anas zu Caifas, von den Priestern zu Pilatus, der behauptete, im Codex Romanum nicht genügend Gesetze zu haben. Von Pilatus zu Herodes, der seinerseits behauptete, daß das jüdische Gesetz das Todesurteil nicht erlaubte. Von Herodes wieder zu Pilatus zurück, der noch einen Ausweg suchte, indem er dem Volk einen gerichtlichen Vergleich anbot: Er ließ Christus peitschen und zeigte seine Wunden, doch es funktionierte nicht.
Genau wie ein Staatsanwalt heute beschloß Pilatus, sich auf Kosten des Verurteilten zu profilieren: Er bot an, Jesus gegen Barabbas einzutauschen, weil er wußte, daß die Justiz jetzt zu einem großen Spektakel geworden war, das als Krönung den Tod des Angeklagten brauchte.
Schließlich benutzte Pilatus den Artikel, der den Zweifel nicht zugunsten des Angeklagen anwandte, sondern zugunsten des Richters. Er selbst blieb neutral, was »weder ja noch nein« hieß. Das war ein weiterer Kunstgriff, um das römische Rechtssystem zu wahren, ohne die guten Beziehungen zu den lokalen Richtern aufs Spiel zu setzen, indem das Volk das Urteil fällte. Damit war er fein raus, falls das Urteil zu Problemen führte und irgendeinen Inspektor aus der Hauptstadt des Reiches auf den Plan rief.
Gerechtigkeit. Gesetz. Es brauchte beide, um die Unschuldigen zu schützen, aber beide konnten es nicht immer allen recht machen. Mari war froh, fern von all diesem Durcheinander zu sein, wenn auch heute abend bei den Klavierklängen nicht mehr allzu sicher, ob Villete der richtige Ort für sie war.
>Wenn ich beschließe, diesen Ort zu verlassen, werde ich nie wieder Anwältin sein, nie mehr mit diesen Verrückten zusammenarbeiten, die sich für normal und wichtig halten, deren einzige Funktion aber darin besteht, den anderen das Leben schwerzumachen. Ich werde Schneiderin, Stickerin oder verkaufe Obst vor dem Stadttheater. Ich habe meinen Teil unnützer Verrücktheit bereits erfüllte In Villete war Rauchen erlaubt, es war aber verboten, Kippen auf den Rasen zu werfen. Lustvoll übertrat Mari das Verbot, denn hier zu sein hatte den Vorteil, daß man die Regeln ungestraft übertreten konnte.
Sie ging zum Eingang. Der Wärter — es gab dort immer einen Wärter, das war schließlich das Gesetz — grüßte sie mit einem Kopfnicken und öffnete die Tür.
»Ich komme nicht hinein«, sagte sie.
»Schöne Musik«, sagte der Wärter. »Ich lausche ihr fast jede Nacht.«
»Aber es wird bald aufhören«, sagte sie und entfernte sich rasch, um keine Erklärungen abgeben zu müssen.
Sie erinnerte sich an das, was sie in den Augen des Mädchens gelesen hatte, als sie in den Speisesaal trat: Angst.
Angst. Veronika mochte Unsicherheit, Schüchternheit, Scham, Peinlichkeit empfinden, doch warum Angst? Dieses Gefühl ist nur angesichts einer konkreten Bedrohung wie vor wilden Tieren, bewaffneten Menschen, Erdbeben gerechtfertigt, niemals jedoch vor einer in einem Speisesaal versammelten Gruppe.
>Doch Menschen sind nun einmal so<, tröstete sie sich.
>Wir haben den größten Teil unserer Gefühle durch Angst ersetzt.<
Und Mari wußte sehr wohl, wovon sie sprach, denn das war der Grund für ihre Einlieferung in Villete gewesen: Panikattacken. Mari hatte in ihrem Zimmer eine wahre Sammlung von Artikeln über diese Krankheit. Heutzutage sprach man schon offen über das Thema, und kürzlich hatte sie eine Sendung im deutschen Fernsehen gesehen, in der Leute von ihren Erfahrungen damit erzählten. In derselben Sendung hatte eine Untersuchung aufgedeckt, daß ein beträchtlicher Teil der Menschen unter Panikattacken leidet, wenn auch fast alle Betroffenen die Symptome zu verheimlichen versuchen, weil sie fürchten, als verrückt angesehen zu werden.
Doch damals, als Mari ihre erste Attacke hatte, war das nicht bekannt. >Es war die Hölle. Die wahre Hölle<, dachte sie und zündete sich noch eine Zigarette an.
Das Klavier spielte weiter. Es sah so aus, als könnte das Mädchen die ganze Nacht weiterspielen.
Die Ankunft der jungen Frau im Sanatorium hatte viele der Insassen berührt. Und Mari war eine davon. Anfangs hatte sie versucht, sie zu meiden, weil sie fürchtete, Veronikas Lebenswillen wiederzuerwecken. Es war besser, sie wünschte sich weiterhin zu sterben, weil sie nicht mehr fliehen konnte. Dr. Igor hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, daß es der jungen Frau, obwohl er ihr täglich Spritzen gab, zusehends schlechter ging und er sie auf gar keinen Fall retten könne.
Die Insassen hatten die Botschaft verstanden und gingen der Todgeweihten aus dem Weg. Doch dann hatte Veronika unerwartet um ihr Leben zu kämpfen begonnen, obwohl sich ihr nur zwei Personen genähert hatten: Zedka, die morgen gehen würde und nicht viel redete. Und Eduard.
Mari mußte mit Eduard sprechen. Er hörte ihr immer respektvoll zu. Wußte der Junge denn nicht, was er dadurch anrichtete, indem er sie in die Welt zurückholte? Und daß das das Schlimmste war, was man mit einem Menschen tun konnte, für den es keine Hoffnung auf Rettung gab?
Sie wog tausend Möglichkeiten ab, wie sie die Angelegenheit erklären könnte. Alle würden ihm jedoch Schuldgefühle machen, und das wollte sie nicht. Mari überlegte eine Zeitlang und beschloß dann, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sie arbeitete nicht mehr als Anwältin und wollte nicht an einem Ort, wo Anarchie herrschen sollte, neue Verhaltensmaßregeln einführen.
Die Anwesenheit des Mädchens hatte viele Leute betroffen gemacht, und einige fingen schon an, ihr Leben zu überdenken.
Bei einem der Treffen der >Bruderschaft< hatte jemand versucht zu erklären, was da geschah: Die Todesfälle in Villete traten normalerweise plötzlich ein, ohne daß man Zeit hatte, vorher darüber nachzudenken, oder am Ende einer langen Krankheit, wenn der Tod immer ein Segen ist.
Im Falle jener jungen Frau jedoch war es dramatischer, denn sie war jung und begann, wieder leben zu wollen, und alle wußten, daß das unmöglich war. Einige fragten sich:
>Und wenn das nun mir passieren würde? Ich kann leben, aber nutze ich diese Chance überhaupt?< Einige quälten sich nicht mit dieser Frage, sie hatten schon lange aufgegeben und gehörten in eine Welt, in der es weder das Leben noch den Tod gab, noch Zeit und Raum.
Andere hingegen waren gezwungen, darüber nachzudenken.
Und Mari war eine von ihnen.
Veronika hörte einen Augenblick lang auf zu spielen und sah Mari dort draußen stehen, die nur mit einer leichten Jacke bekleidet der nächtlichen Kälte trotzte. Wollte sie sterben?
>Nein. Ich war diejenige, die sterben wollte.< Sie wandte sich wieder dem Klavier zu. In ihren letzten Lebenstagen machte sie ihren Traum wahr: dann mit Herz und Seele spielen, wann sie es wollte und so lange sie wollte. Es war unwichtig, daß ihr Publikum nur aus einem schizophrenen Jungen bestand. Er schien die Musik zu verstehen. Und das zählte.