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Endlich kam ein Taxi.

»Ins Krankenhaus«, sagte der Mann, während er seiner Frau beim Einsteigen half.

»Nach Hause, um Gottes willen!« bat sie. Sie wollte keine fremden Orte mehr, sie brauchte verzweifelt die vertrauten, immer gleichen Dinge, die imstande waren, ihre Angst aufzufangen.

Während der Fahrt nahm das Herzrasen ab, und ihre Körpertemperatur wurde wieder normal.

»Es geht mir schon besser«, sagte sie zu ihrem Mann.

»Wahrscheinlich ist mir etwas auf den Magen geschlagen.«

Als sie zu Hause ankamen, war die Welt wieder die alte, die, die sie von Kindheit an kannte. Als sie ihren Mann zum Telefon gehen sah, fragte sie, was er tun wolle.

»Einen Arzt rufen.«

»Das ist nicht nötig. Schau mich an, es geht mir wieder gut.«

Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, das Herz schlug normal, und die unkontrollierbare Angst war verschwunden.

Mari schlief in dieser Nacht sehr tief und wachte mit der Gewißheit wieder auf, daß jemand ihr eine Droge in den Kaffee getan haben mußte, den sie vor dem Kino getrunken hatte. Da hatte sich jemand einen gefährlichen Jux erlaubt, und am Spätnachmittag war sie wild entschlossen, einen Staatsanwalt anzurufen und mit ihm in die Bar zu gehen, um den Schuldigen zu finden.

Sie ging zur Arbeit, bearbeitete einige rechtshängige Prozesse, versuchte sich mit den unterschiedlichsten Angelegenheiten zu beschäftigen. Das Erlebnis vom Vortag steckte ihr noch in den Knochen, und sie mußte sich selbst beweisen, daß es sich nicht wiederholen würde.

Sie diskutierte mit einem ihrer Partner über den Film über El Salvador und erwähnte nebenbei, daß sie das tägliche Einerlei leid sei.

»Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, in Rente zu gehen.«

»Sie sind eine unserer Besten«, sagte der Partner, »und der Anwaltsberuf ist einer der wenigen, in dem das Alter sich positiv auswirkt. Warum nehmen Sie nicht einen längeren Urlaub? Ich bin sicher, Sie kommen gestärkt und mit neuem Elan zurück.«

»Ich möchte meinem Leben eine andere Wendung geben.

Ein Abenteuer erleben, anderen helfen, etwas tun, was ich noch nie getan habe.«

Die Unterhaltung endete hier. Sie ging hinunter auf den Platz in ein Restaurant, das teurer war als das, in dem sie gewöhnlich zu Mittag aß. Und kam früher wieder ins Büro zurück. Damit begann ihr Rückzug.

Die anderen Mitarbeiter waren noch nicht zurückgekommen, und Mari nutzte die Zeit, um die Akten zu bearbeiten, die auf ihrem Tisch lagen. Sie öffnete die Schublade, um einen Kugelschreiber herauszuholen, den sie immer an denselben Platz legte, fand ihn aber nicht. Der Gedanke durchfuhr sie, daß der verlegte Kugelschreiber möglicherweise ein Indiz dafür war, daß sie nicht mehr normal sei.

Und schon begann ihr Herz wieder zu jagen, und der Schrecken des vorangegangenen Abends kehrte wieder mit aller Kraft zurück.

Mari war wie gelähmt. Die Sonne schien durch die Fensterläden und gab allem eine andere, lebendigere, grellere Farbe, sie aber hatte das Gefühl, in der nächsten Minute zu sterben. Alles hier war vollkommen fremd. Was machte sie überhaupt in diesem Büro?

>Mein Gott, ich glaube nicht an Dich, aber hilf mir!< Ihr brach wieder der kalte Schweiß aus, und sie merkte, daß sie ihre Angst nicht in den Griff bekam. Wenn jemand in diesem Augenblick hereingekommen wäre, hätte er ihren erschreckten Blick bemerkt, und das wäre das Ende gewesen.

>Kühle Luft.<

Die kühle Luft hatte ihr gestern gutgetan. Doch wie sollte sie auf die Straße gelangen? Wieder spürte sie genau, was mit ihr geschah: Sie spürte den Rhythmus ihres Atems (es gab Augenblicke, da fühlte sie, daß, wenn sie nicht bewußt einund ausatmete, ihr Körper außerstande war, dies von allein zu tun), die Bewegung des Kopfes (die Bilder wechselten ihren Platz, als würde sich eine Fernsehkamera drehen), das Herz, das immer schneller schlug, den in eiskalten, klebrigen Schweiß gebadeten Körper.

Und die Angst. Die unerklärliche, immense Angst davor, etwas zu tun, einen Schritt zu machen, den Raum zu verlassen. >Es geht wieder vorbei.<

Es war gestern auch vorbeigegangen. Doch jetzt war sie an ihrem Arbeitsplatz. Was sollte sie tun? Sie sah auf die Uhr, die ihr ebenfalls wie ein absurder Mechanismus vorkam mit ihren zwei Zeigern, die um dieselbe Achse kreisten und aus unerfindlichen Gründen die Zeit in Zwölfereinhei-ten maßen statt in Zehner wie alle anderen Maße.

>Ich darf über diese Dinge nicht nachdenken. Sie machen mich verrückt.<

Verrückt. Genau, vielleicht wurde sie ja verrückt. Mari nahm all ihre Kraft zusammen, erhob sich und ging ins Bad.

Zum Glück war das Büro noch immer leer, und es gelang ihr, in einer Minute dorthin zu kommen — in einer Minute, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam. Sie wusch ihr Gesicht, und das Gefühl des Fremdseins nahm ab, doch die Angst blieb.

>Sie vergeht wieder<, sagte sie sich, >wie gestern auch.< Gestern hatte es etwa eine halbe Stunde gedauert, erinnerte sie sich. Sie schloß sich in einer der Toiletten ein, setzte sich auf die Klobrille und legte den Kopf auf die Knie.

Doch so hörte sie ihr Herz nur noch lauter pochen, und Mari richtete sich sofort wieder auf.

>Es wird vergehen.<

Sie blieb sitzen im Gefühl, sich selbst nicht mehr zu kennen, endgültig verloren zu sein. Sie hörte Schritte von Leuten, die den Waschraum betraten und wieder verließen, hörte, wie Wasserhähne aufund zugedreht wurden, nutzlose Gespräche über banale Dinge. Mehrmals versuchte jemand, die Toilette, in der sie war, zu öffnen, und dann murmelte sie etwas, und die betreffende Person ging wieder. Die Wasserspülung rauschte wie eine Naturgewalt, imstande, das ganze Gebäude wegzuspülen und alle Menschen mit sich in die Hölle zu reißen.

Doch wie vorausgesehen legte sich die Angst, und ihr Herz schlug wieder normal. Wie gut, daß ihre Sekretärin so inkompetent war und ihre Abwesenheit nicht bemerkte, denn sonst wäre längst das gesamte Büro im Waschraum aufmarschiert.

Als sie sich wieder im Griff hatte, öffnete Mari die Tür, wusch sich noch einmal ausgiebig das Gesicht und ging in ihr Büro zurück.

»Sie sind ja ganz ungeschminkt«, sagte eine Praktikantin.

»Soll ich Ihnen mein Make-up leihen?«

Mari machte sich nicht die Mühe zu antworten. Sie trat ins Büro, nahm ihre Handtasche, ihre persönlichen Dinge und sagte der Sekretärin, sie werde den Rest des Tages zu Hause verbringen.

»Sie haben aber zwei Termine«, wandte die Sekretärin ein.

»Wer hier Anweisungen gibt, bin ich, nicht Sie. Und meine Anweisung lautet: Sagen Sie die Termine ab!«

Die Sekretärin sah der Frau nach, mit der sie seit fast drei Jahren zusammenarbeitete und die sie noch nie so heruntergeputzt hatte. Es mußte etwas Ernsthaftes mit ihr los sein: Vielleicht hatte ihr ja gerade jemand gesagt, daß sich ihr Mann zu Hause mit einer Geliebten vergnügte, und sie wollte sie in flagranti ertappen.

>Sie ist eine gute Anwältin, sie weiß sich zu helfen<, sagte sich das Mädchen. >Morgen wird sie sich sicher entschuldigen.< Es gab kein »morgen«. In jener Nacht sprach Mari lange mit ihrem Mann. Sie beschrieb ihm die Symptome. Sie kamen gemeinsam zum Schluß, daß das Herzrasen, der kalte Schweiß, das Gefühl von Fremdheit, die Ohnmacht, der Verlust der Kontrolle in einem Wort zusammengefaßt werden konnten: Angst.

Mann und Frau überlegten gemeinsam, was wohl passiert sein könnte. Er dachte an einen Gehirntumor, sprach es aber nicht aus. Sie hatte schlimme Vorahnungen, sprach sie aber ebenfalls nicht aus. Gemeinsam versuchten sie, sich wie vernünftige reife Menschen zu unterhalten.

»Vielleicht solltest du dich mal untersuchen lassen.«

Mari stimmte dem Vorschlag zu, unter der Bedingung, daß niemand, nicht einmal ihre Kinder, etwas davon erfuhren.

Am nächsten Tag bat sie um einen einmonatigen unbezahlten Urlaub, der ihr auch gewährt wurde. Der Mann erwog, mit ihr nach Österreich zu fahren, wo die großen Spezialisten für Gehirnkrankheiten praktizierten, doch sie weigerte sich, das Haus zu verlassen. Die Attacken kamen jetzt häufiger und dauerten länger.