»Wir können viele Fehler in unserem Leben begehen«, sagte der Anwalt. »Nur nicht den Fehler, der alles zerstört.« Es brachte nichts, das Gespräch fortzusetzen. Seiner Meinung nach hatte Mari den fatalen Fehler begangen.
Zwei Tage später wurde ihr der Besuch eines anderen Anwalts gemeldet. Diesmal aus einer anderen Kanzlei, die die beste Konkurrentin ihrer jetzt ehemaligen Kollegen war.
Mari lebte auf. Vielleicht wußte er, daß sie frei war und eine neue Stelle suchte, die ihr die Chance bot, ihren Platz in der Welt wieder einzunehmen.
Der Anwalt trat in das Besuchszimmer, setzte sich, fragte lächelnd nach ihrem Befinden und zog verschiedene Papiere aus der Aktentasche.
»Ich bin wegen Ihres Mannes hier«, sagte er. »Hier ist sein Scheidungsantrag. Selbstverständlich übernimmt er alle Krankenhauskosten für die Dauer Ihres Aufenthalts.«
Diesmal wehrte sich Mari nicht. Sie unterzeichnete alles, obwohl sie als Anwältin wußte, daß sie diesen Rechtsstreit unendlich verlängern könnte. Anschließend ging sie zu Dr.
Igor und sagte ihm, ihre Symptome seien zurückgekehrt.
Dr. Igor wußte, daß sie log, doch er verlängerte ihre Internierung auf unbestimmte Zeit.
Veronika beschloß, ins Bett zu gehen, doch Eduard blieb neben dem Klavier stehen.
»Ich bin müde, Eduard. Ich brauche Schlaf.«
Sie hätte gern für ihn weitergespielt, alle Sonaten, Requiems, Adagios, die sie kannte, aus ihrem betäubten Geist wieder hervorgeholt, weil seine Bewunderung nicht fordernd war. Doch ihr Körper machte nicht mehr mit.
Er war ein so gutaussehender Mann! Wenn er doch nur ein bißchen aus seiner Welt herauskäme und in ihr die Frau sähe, dann könnten ihre letzten Nächte auf dieser Erde die schönsten ihres Lebens werden, denn Eduard war als einziger imstande, sie als Künstlerin zu begreifen. Mit ihm war sie über die Musik eine Verbindung eingegangen wie noch nie zuvor mit jemandem.
Eduard war der ideale Mann. Sensibel, gebildet, hatte er eine uninteressante Welt zerstört, um sie in seinem Kopf neu erstehen zu lassen, dieses Mal mit neuen Farben, Personen, Geschichten. Und diese neue Welt schloß eine Frau, ein Klavier und einen zunehmenden Mond mit ein.
»Ich könnte mich jetzt verlieben, dir alles geben, was ich habe«, sagte sie, weil sie wußte, daß er sie nicht verstehen konnte. »Du bittest mich immer nur um Musik, doch ich bin viel mehr, als ich dachte, und würde gern andere Dinge mit jemandem teilen, die ich jetzt verstehe.«
Eduard lächelte. Hatte er sie verstanden? Veronika bekam einen Schreck, denn im Handbuch des guten Benehmens hieß es, daß man nicht auf so direkte Weise über Liebe sprach und schon gar nicht mit einem Mann, den man erst wenige Male gesehen hatte. Doch sie beschloß, sich nicht beirren zu lassen, weil sie nichts zu verlieren hatte.
»Du bist der einzige Mann auf dieser Erde, in den ich mich verlieben kann, Eduard. Einfach, weil du mich nicht vermissen wirst, wenn ich sterbe. Ich weiß nicht, was ein Schizophrener fühlt, aber ganz bestimmt nicht Sehnsucht nach jemandem.
Vielleicht wirst du dich anfangs wundern, wenn nachts keine Musik mehr erklingt. Doch der Mond wird immer wieder aufgehen, und immer wieder einmal wird jemand Lust haben, Sonaten für dich zu spielen, vor allem hier, in einer psychiatrischen Anstalt, denn schließlich sind wir doch alle mondsüchtig.«
Sie wußte nicht, welche Verbindung es zwischen den Verrückten und dem Mond gab, doch wenn Geisteskrankheit als Mondsüchtigkeit beschrieben wurde, mußte sie sehr stark sein.
»Und ich werde dich auch nicht vermissen, Eduard, denn ich werde tot sein, fern von hier. Und da ich keine Angst habe, dich zu verlieren, ist es mir gleichgültig, was du über mich denkst, und heute habe ich für dich wie eine verliebte Frau gespielt. Das war schön. Es war der schönste Augenblick in meinem Leben.«
Sie sah zu Mari nach draußen. Sie erinnerte sich an deren Worte. Und sah wieder den jungen Mann an, der vor ihr stand.
Veronika zog ihren Pullover aus und näherte sich Eduard. Wenn sie es tun wollte, dann war jetzt der Moment dafür.
Mari würde die Kälte dort draußen nicht lange aushaken und bald wieder hereinkommen.
Eduard wich zurück. Die Frage in seinen Augen war: Wann würde sie ans Klavier zurückkehren? Wann würde sie eine andere Musik spielen, um seine Seele mit den Schmerzen, den Freuden jener verrückten Komponisten zu füllen, die die Generationen mit ihren Werken überdauert hatten?
»Die Frau da draußen hat mir gesagt: >Befriedige dich selbst. Erfahre, wohin du gelangen kannst.< Sollte ich wirklich weiter kommen als je zuvor?«
Und sie nahm ihn bei der Hand und wollte ihn zum Sofa führen, doch Eduard entzog sich höflich. Er blieb lieber stehen und wartete geduldig, daß sie wieder spielte.
Veronika war verwirrt, doch dann war ihr wieder klar, daß sie nichts zu verlieren hatte. Sie war tot, warum sollte sie weiter Ängste und Vorurteile hegen, mit denen ihr Leben immer eingegrenzt worden war? Sie zog die Bluse aus, die Hose, den BH, den Slip und stand nackt vor ihm.
Eduard lachte. Sie wußte nicht worüber, stellte einfach fest, daß er gelacht hatte. Vorsichtig nahm sie seine Hand und legte sie auf ihr Geschlecht. Die Hand blieb dort reglos liegen. Veronika überlegte es sich anders und schob die Hand wieder weg.
Etwas erregte sie viel mehr, als wenn sie körperlichen Kontakt mit dem Mann gehabt hätte. Die Tatsache, daß sie machen konnte, was sie wollte, daß es keine Grenzen gab; außer der Frau, die jeden Moment hereinkommen konnte, war um diese Zeit wahrscheinlich niemand mehr wach. Ihr Blut floß schneller, und das Frösteln, das sie empfunden hatte, als sie sich auszog, verschwand wieder. Die beiden standen voreinander, sie war nackt, er vollständig angezogen. Veronika ließ die Hand herunter zu ihrem Geschlecht gleiten und begann sich selbst zu befriedigen. Sie hatte das schon früher getan, allein oder mit einigen Partnern, doch nie in einer Situation wie dieser, wo der Mann nicht das geringste Interesse an dem zeigte, was gerade geschah.
Und das war erregend. Sehr erregend. Breitbeinig stehend berührte Veronika ihr Geschlecht, ihre Brüste, ihr Haar und gab sich hin, wie sie sich nie zuvor hingegeben hatte, weniger um zu sehen, ob sie diesen Jungen aus seiner fernen Welt herausholen konnte, sondern weil sie so etwas noch nie erlebt hatte.
Sie begann zu reden, undenkbare Dinge zu sagen, die ihre Eltern, ihre Freunde, ihre Vorfahren für den größten Schmutz auf Erden gehalten hätten. Der erste Orgasmus kam, und sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu schreien.
Eduard blickte sie an. In seinen Augen war jetzt ein anderes Leuchten, als verstünde er etwas, auch wenn er möglicherweise nur die Energie, den Schweiß, den Geruch, die Hitze wahrnahm, die ihr Körper ausstrahlte. Veronika war noch nicht befriedigt. Sie kniete nieder und begann sich wieder selbst zu befriedigen.
Sie wollte sterben, während sie der bis heute verbotenen Lust frönte: Sie flehte den Mann an, sie zu berühren, sie zu unterwerfen, sie zu allem zu benutzten, wozu er Lust hatte.
Wollte, daß auch Zedka da wäre, weil eine Frau besser als jeder Mann weiß, wie sie den Körper einer anderen Frau berühren mußte, da sie all dessen Geheimnisse kannte.
Sie kniete vor Eduard nieder. Ihr war, als würde er sie besitzen und berühren, und sie gebrauchte obszöne Worte, um zu beschreiben, was sie von ihm wollte. Ein neuer Orgasmus kam, stärker als der letzte, als würde alles um sie herum gleich explodieren. Sie erinnerte sich an den Herzanfall, den sie am Morgen gehabt hatte, doch das war jetzt unwichtig, sie würde voller Lust sterben, explodieren. Sie fühlte sich versucht, Eduards Geschlecht zu packen, das sich direkt vor ihrem Gesicht befand, doch sie wollte nicht Gefahr laufen, diesen Augenblick zu zerstören. Sie ging weit, viel weiter, genau wie Mari gesagt hatte.