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Sie stellte sich vor, Königin und Sklavin zu sein, Beherrscherin und Beherrschte. In ihrer Phantasie machte sie Liebe mit Weißen, Schwarzen, Gelben, Homosexuellen, Bettlern.

Sie gehörte allen, und alle konnten alles mit ihr machen. Sie hatte nacheinander einen, zwei, drei Orgasmen. Sie phantasierte sich, was sie sich nie zuvor vorgestellt hatte — und gab sich dem Gemeinsten und Reinsten hin, das es gab. Am Ende konnte sie sich nicht mehr beherrschen und schrie laut, vor Lust, vor Schmerz, wegen der aufeinanderfolgenden Orgasmen, wegen der vielen Männer und Frauen, die ihren Körper besessen hatten, indem sie sich ihres Geistes bemächtigten.

Dann legte sie sich auf den Boden und blieb dort schweißbedeckt, friedlich liegen. Sie hatte ihre innersten Wünsche vor sich selbst verborgen, ohne zu wissen, wieso. Und sie brauchte keine Antwort. Es reichte, daß sie getan hatte, was sie tat: sich hinzugeben. Ganz allmählich kehrte das Universum an seinen Platz zurück, und Veronika erhob sich. Eduard hatte die ganze Zeit reglos dagestanden, doch etwas schien sich in ihm verändert zu haben: Seine Blicke zeigten Zärtlichkeit, eine sehr irdische Zärtlichkeit.

>Es war so gut, daß ich jetzt überall Liebe entdecken kann. Sogar in den Augen eines Schizophrenen.< Sie zog ihre Kleider wieder an und bemerkte, daß noch jemand im Raum war: Mari.

Veronika wußte nicht, wann sie hereingekommen war oder ob sie etwas gesehen hatte, doch sie fühlte weder Scham noch Angst. Sie blickte sie nur mit der gleichen Distanz an, mit der man einen Menschen ansieht, der einem zu nahe getreten ist.

»Ich habe gemacht, was du mir vorgeschlagen hast«, sagte Veronika, »und ich bin sehr weit gekommen.«

Mari schwieg. Sie hatte gerade sehr wichtige Augenblicke in ihrem Leben Revue passieren lassen und fühlte sich nicht recht wohl. Vielleicht war der Augenblick gekommen, in die Welt zurückzukehren, sich den Dingen draußen zu stellen, zu sagen, daß alle Mitglieder einer großen >Bruderschaft< sein könnten, ohne je eine psychiatrische Anstalt von innen gesehen zu haben.

Wie diese junge Frau beispielsweise, deren einziger Grund, in Villete zu sein, ein Selbstmordversuch war. Sie hatte nie Panik erlebt, Depressionen, mystische Visionen, Psychosen, die Grenzen, an die der menschliche Geist stoßen kann. Obwohl sie viele Männer gehabt hatte, hatte sie ihre geheimsten Wünsche nie ausgelebt — mit dem Ergebnis, daß ihr ein Großteil ihrer selbst verborgen geblieben war. Ach, könnten doch alle Menschen ihre innere Verrücktheit kennenlernen und mit ihr leben! Wäre die Welt deswegen schlechter? Nein, die Menschen wären gerechter und glücklicher.

»Warum habe ich das nicht vorher gemacht?«

»Er möchte, daß du ihm noch mehr vorspielst«, sagte Mari und sah Eduard dabei an. »Ich glaube, er hat es verdient.«

»Gleich. Doch sag mir: Warum habe ich dies noch nie gemacht?

Wenn ich frei bin, wenn ich alles denken darf, was ich möchte, warum habe ich es immer vermieden, mir Verbotenes vorzustellen?«

»Verbotenes? Hör mal, ich war Anwältin und kenne die Gesetze. Ich war auch einmal katholisch und kannte einen Großteil der Bibel auswendig. Was verstehst du unter verboten<?«

Mari trat auf sie zu und half ihr in den Pullover.

»Schau mir in die Augen und merke dir gut, was ich dir jetzt sagen werde. Es gibt nur zwei verbotene Dinge, das eine, weil es das Gesetz des Menschen verbietet, das andere, weil Gottes Gesetz es verbietet: Das eine ist, jemanden zu einer sexuellen Beziehung zu zwingen — das ist Vergewaltigung.

Das andere ist Sex mit Kindern — das ist die größte aller Sünden. Alles andere ist erlaubt. Du bist frei. Es gibt immer jemanden, der genau das möchte, was du auch möchtest.«

Mari hatte keine Lust, jemandem wichtige Dinge beizubringen, der bald sterben würde. Sie lächelte, sagte gute Nacht und ging.

Eduard bewegte sich nicht, wartete auf seine Musik. Veronika mußte ihn für die ungeheure Lust entschädigen, die er ihr nur dadurch gegeben hatte, daß er vor ihr stehengeblieben war und ihrem Wahnsinn ohne Angst oder Abscheu zugesehen hatte. Sie setzte sich ans Klavier und fing wieder an zu spielen.

Ihre Seele war leicht, und selbst die Angst vor dem Tod quälte sie nicht mehr. Sie hatte Wünsche ausgelebt, die sie immer verdrängt hatte. Sie hatte die Lust einer Jungfrau und einer Prostituierten, einer Sklavin und einer Königin erfahren

— mehr die einer Sklavin als die einer Königin.

In jener Nacht fielen ihr wie durch ein Wunder alle Stücke wieder ein, die sie kannte, und sie machte Eduard damit fast so glücklich wie sich selbst.

Als er im Warteraum das Licht einschaltete, stand zu Dr.

Igors Überraschung die junge Frau vor ihm.

»Es ist noch zu früh. Und außerdem bin ich heute ausgebucht.«

»Ich weiß, daß es zu früh ist«, sagte sie. »Und der Tag hat noch nicht einmal angefangen. Ich muß Ihnen etwas sagen.

Ich brauche Hilfe.«

Sie hatte Ringe unter den Augen, und ihr Haar war stumpf und glanzlos, ein untrügliches Zeichen für eine durchwachte Nacht.

Dr. Igor beschloß, sie hereinzubitten.

Er bat sie, sich zu setzen, machte auch im Sprechzimmer Licht und zog die Vorhänge auf. In weniger als einer Stunde wurde es hell, und dann konnte er Strom sparen. Die Aktionäre sparten an allem und jedem.

Er warf einen kurzen Blick auf seinen Terminkalender: Zedka hatte schon ihren letzten Insulinschock bekommen und gut darauf reagiert, oder besser gesagt, hatte es geschafft, die unmenschliche Behandlung zu überleben. Wie gut, daß Dr. Igor vom Aufsichtsrat des Krankenhauses verlangt hatte, daß sie eine Erklärung unterzeichneten, durch die sie die Verantwortung für mögliche Folgen übernahmen.

Er sah die Berichte durch. Zwei oder drei Patienten hatten sich in der Nacht aggressiv verhalten, berichteten die Krankenpfleger. Darunter auch Eduard, der um vier Uhr morgens in seine Station zurückgekehrt war und sich geweigert hatte, die Schlaftabletten zu schlucken. Dr. Igor mußte etwas unternehmen. Denn so liberal Villete drinnen war, so mußte doch nach außen der Schein einer konservativen, strengen Institution gewahrt werden.

»Ich muß Sie um etwas Wichtiges bitten«, sagte die junge Frau.

Doch Dr. Igor beachtete sie nicht. Er nahm ein Stethoskop, begann ihre Lunge und ihr Herz abzuhören. Prüfte ihre Reflexe und untersuchte den Augengrund mit einer Taschenlampe. Er sah, daß sie kaum noch Zeichen einer Vitriolvergiftung oder Vergiftung durch Bitterkeit aufwies, wie alle es lieber nannten.

Dann ging er zum Telefon und bat die Krankenschwester, ein Medikament mit kompliziertem Namen zu bringen.

»Mir scheint, Sie haben gestern abend Ihre Spritze nicht erhalten.«

»Aber ich fühle mich doch besser.«

»Man braucht Sie nur anzusehen: Augenringe, Müdigkeit, Fehlen unmittelbarer Reflexe. Wenn Sie die Zeit nutzen wollen, die Ihnen noch verbleibt, tun Sie bitte, was ich Ihnen sage.«

»Genau deswegen bin ich hier. Ich möchte das bißchen Zeit, was mir noch bleibt, nutzen, aber auf meine Art. Wieviel Zeit bleibt mir noch?«

Dr. Igor blickte sie über den Brillenrand an.

»Antworten Sie mir, bitte«, forderte Veronika. »Ich habe jetzt keine Angst mehr, bin nicht mehr gleichgültig. Ich möchte leben, doch ich weiß, daß Wünschen nichts bewirken wird, und ergebe mich in mein Schicksal.« »Und was wollen Sie dann?«

Die Krankenschwester kam mit der Spritze herein. Dr.

Igor machte ein Zeichen mit dem Kopf. Vorsichtig schob sie den Ärmel von Veronikas Pullover hoch.

»Wieviel Zeit habe ich noch?« wiederholte Veronika, während ihr die Krankenschwester die Spritze gab.

»Vierundzwanzig Stunden. Vielleicht weniger.«

Sie senkte den Blick und biß sich auf die Lippe. Doch sie behielt die Fassung.