War dies einer der Hauptgründe dafür, daß so viele Menschen von der Bitterkeit vergiftet wurden? Ehen, die wie von einer erzwungenen Monogamie eingeengt waren und aus denen (wie Untersuchungen belegten, die Dr. Igor sorgfältig in seiner medizinischen Bibliothek verwahrte) der Wunsch nach Sexualität im dritten oder vierten Ehejahr verschwand. Dann fühlte die Frau sich abgelehnt, der Mann als ein Sklave der Ehe — und das Vitriol, die Bitterkeit begann alles zu zerstören.
Die Menschen äußerten sich einem Psychiater gegenüber offener als gegenüber einem Priester, weil der Arzt nicht mit der Hölle drohen konnte. Während seines langen Berufslebens als Psychiater hatten die Patienten Dr. Igor praktisch alles erzählt, was man sich nur vorstellen konnte.
Erzählt. Selten getan. Sogar nach einigen Jahren Berufserfahrung fragte er sich noch, warum alle so große Angst davor hatten, sich anders als gewohnt zu verhalten. Wenn er es von ihnen wissen wollte, war die Antwort, die er am häufigsten hörte: »Mein Mann wird mich für eine Hure halten.« Wenn ein Mann vor ihm saß, sagte der:
»Meine Frau verdient Achtung.«
Und da endete zumeist die Unterhaltung. Es führte zu nichts, zu sagen, daß jeder Mensch sein eigenes sexuelles Profil hatte, das genauso einzigartig war wie seine Fingerabdrücke.
Das wollte niemand glauben. Es war riskant, im Bett frei zu sein, weil der andere womöglich immer noch Sklave seiner Vorurteile war.
>Ich werde die Welt nicht ändern können<, dachte er resigniert und bat die Krankenschwester, die ehemalige Depressive, Zedka, eintreten zu lassen. >Aber in meinem Buch werde ich wenigstens sagen können, was ich denke.< Eduard sah Veronika aus Dr. Igors Sprechzimmer kommen, und er machte sich auf den Weg zur Krankenstation. Er hätte ihr gern seine Geheimnisse anvertraut, ihr mit der gleichen Ehrlichkeit und Freiheit die Seele geöffnet wie sie in der Nacht zuvor ihren Körper.
Es war dies eine seiner schwersten Prüfungen gewesen, seit er als Schizophrener in Villete eingeliefert worden war.
Doch er hatte widerstanden und war zufrieden — auch wenn er sich immer quälender bewußt wurde, daß er eigentlich in die Welt zurückkehren wollte.
>Alle wissen, daß diese junge Frau nicht mehr bis zum Ende dieser Woche durchhält. Es bringt nichts.< Oder vielleicht war es gerade deswegen gut, die eigene Geschichte mit ihr zu teilen. Seit drei Jahren sprach er nur mit Mari, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn ganz verstand. Als Mutter dachte sie vielleicht, daß seine Eltern recht hatten, daß sie nur sein Bestes wollten, daß die Visionen des Paradieses nur der alberne Traum eines Jugendlichen waren und ganz außerhalb der realen Welt lagen.
Visionen vom Paradies. Genau das hatte ihn in die Hölle, zu den endlosen Streitigkeiten mit seiner Familie, zu diesem Schuldgefühl geführt, das so stark war, daß es ihn lahmte und zwang, sich in eine andere Welt zu flüchten. Hätte es Mari nicht gegeben, würde er noch immer in dieser anderen Realität leben.
Doch Mari war gekommen, hatte sich um ihn gekümmert, ihm wieder das Gefühl gegeben, geliebt zu werden.
Dank Mari war er noch fähig, an seiner Umwelt teilzuhaben.
Vor einigen Tagen war eine junge Frau in seinem Alter gekommen und hatte sich ans Klavier gesetzt, um die
>Mondscheinsonate< zu spielen. Eduard wußte nicht, ob es an der Musik oder an dem Mädchen oder am Mond oder an der Zeit gelegen hatte, die er schon in Villete war, aber die Visionen vom Paradies begannen ihn wieder heimzusuchen.
Er folgte ihr bis zur Frauenstation, wo sich ihm ein Krankenpfleger in den Weg stellte.
»Hier kannst du nicht rein, Eduard. Geh wieder in den Garten. Es wird hell, und der Tag wird schön.«
Veronika blickte sich um.
»Ich werde ein bißchen schlafen«, sagte sie zu ihm. »Wir reden nachher miteinander.«
Veronika wußte nicht, weshalb, aber dieser Junge gehörte jetzt zu ihrer Welt — oder zumindest zu dem Wenigen, das noch von dieser Welt übrig war. Sie war sich sicher, daß Eduard fähig war, ihre Musik zu verstehen, ihr Talent zu würdigen. Auch wenn er kein Wort herausbrachte, seine Augen sagten alles.
Wie in diesem Augenblick an der Tür zur Station, als sie Dinge sagten, von denen sie nichts wissen wollte.
Zärtlichkeit. Liebe.
>Dieses Zusammenleben mit den Geisteskranken hat mich schnell verrückt werden lassen. Schizophrene empfinden so etwas nicht — jedenfalls nicht für Wesen von dieser Welt.< Veronika war drauf und dran, auf ihn zuzugehen und ihm einen Kuß zu geben, doch sie hielt sich zurück. Der Krankenpfleger könnte es sehen und Dr. Igor erzählen, und der Arzt würde einer Frau, die Schizophrene küßte, bestimmt nicht erlauben, Villete zu verlassen.
Eduard starrte den Krankenpfleger an. Er fühlte sich stärker zu der jungen Frau hingezogen, als er geglaubt hatte, doch er mußte sich jetzt in der Gewalt haben. Er würde mit Mari beratschlagen, dem einzigen Menschen, mit dem er seine Geheimnisse teilte. Sie würde ihm bestimmt sagen, daß das, was er wollte — Liebe -, in so einem Fall gefährlich und nutzlos sei. Mari würde Eduard bitten, den Unsinn zu lassen und wieder ein normaler Schizophrener zu sein (dann würde sie lachen, denn dieser Satz machte keinen Sinn).
Er gesellte sich zu den ändern im Speisesaal, aß, was man ihm vorsetzte, und ging zum Pflichtspaziergang hinaus in den Garten. Während des »Sonnenbades« (auch heute wieder bei unter null Grad) versuchte er sich Mari zu nähern.
Doch sie sah aus, als wollte sie allein sein. Sie brauchte nichts zu sagen, denn Eduard kannte die Einsamkeit gut genug, um zu wissen, wann man sie bei anderen respektieren mußte.
Ein neuer Insasse kam zu Eduard. Er kannte die Leute wohl noch nicht.
»Gott hat die Menschheit gestraft«, sagte er. »Und er hat sie mit der Seuche bestraft. Doch ich habe Ihn in meinen Träumen gesehen. Er hat mir aufgetragen, Slowenien zu retten.«
Eduard entfernte sich, während der Mann brüllte:
»Glaubst du, ich bin verrückt? Dann lies die Evangelien!
Gott hat Seinen Sohn gesandt, und Sein Sohn kommt jetzt zurück!«
Doch Eduard hörte ihn nicht mehr. Er blickte auf die Berge draußen und fragte sich, was mit ihm bloß los war.
Warum verspürte er den Wunsch, hier herauszukommen, wo er doch hier endlich den Frieden gefunden hatte, den er so sehr suchte? Warum sollte er seine Eltern erneut der Gefahr aussetzen, sich zu blamieren, wo doch die Familienprobleme gerade gelöst waren? Er wurde unruhig, ging auf und ab, während er darauf wartete, daß Mari aus ihrem Schweigen heraustrat und sie miteinander reden konnten.
Doch sie wirkte abwesender denn je.
Er wußte, wie man aus Villete fliehen konnte. Auch wenn die Sicherheitsvorkehrungen sehr streng zu sein schienen, gab es doch viele Mängel. Schlicht und einfach deswegen, weil die Leute, wenn sie einmal hier drinnen waren, nur wenig Lust hatten, wieder herauszukommen. Es gab nach Osten hin eine Mauer, über die man ohne größere Schwierigkeiten klettern konnte, weil sie an vielen Stellen beschädigt war.
Hatte man sie überwunden, stand man auf freiem Feld, und fünf Minuten später befand man sich auf der Straße, die nach Osten, nach Kroatien, führte. Der Krieg war zu Ende, die Brüder waren wieder Brüder, die Grenzen nicht mehr so scharf bewacht. Mit ein bißchen Glück konnte man in sechs Stunden in Zagreb sein.
Eduard war schon mehrfach auf dieser Straße gewesen, hatte jedoch jedesmal beschlossen umzukehren, weil er noch nicht das Zeichen bekommen hatte voranzuschreiten.
Jetzt war alles anders: Das Zeichen war in Gestalt einer jungen Frau mit grünen Augen, braunem Haar und der entschlossenen Miene eines Menschen erschienen, der zu wissen meint, was er will.
Eduard überlegte, ob er sich direkt zur Mauer begeben, hinausgehen und aus Slowenien verschwinden sollte. Doch das Mädchen schlief, und er mußte sich wenigstens von ihr verabschieden.