Als sich nach dem »Sonnenbad« die Bruderschaft im Aufenthaltsraum versammelte, gesellte sich Eduard zu ihnen.
»Was will denn dieser Verrückte hier?« fragte der Älteste der Gruppe.
»Laß ihn«, sagte Mari. »Wir sind doch auch verrückt.« Alle lachten, und sie begannen, sich über den gestrigen Vortrag zu unterhalten. Die Frage war, ob die Sufi-Medita-tion tatsächlich die Welt verändern könne. Es wurden Theorien, Art und Weise der Anwendung, gegenteilige Ideen, Kritik am Vortragenden, Vorschläge vorgebracht, wie zu verbessern wäre, was seit Jahrhunderten probiert worden war.
Eduard hatte diese Art von Diskussionen satt. Die Leute schlössen sich in einer Irrenanstalt ein und verbrachten die Zeit damit, die Welt zu retten, ohne irgendein Risiko einzugehen, denn sie wußten, daß die Leute draußen sie lächerlich nennen würden, auch wenn sie ganz konkrete Ideen hatten.
Jeder einzelne hatte seine spezielle Theorie zu allem und glaubte, seine Wahrheit sei die einzig wichtige. Sie verbrachten Tage, Nächte, Wochen und Jahre mit Reden, ohne je die einzige Realität anzunehmen, die es hinter jeder Idee gibt: Sei sie nun gut oder schlecht, es gibt sie erst, wenn jemand sie in die Tat umsetzt.
Was war nun Sufi-Meditation? Was war Gott? Was war die Erlösung, und mußte die Welt überhaupt erlöst werden?
Nein. Wenn alle hier und dort draußen ihr Leben leben würden und die anderen das gleiche täten, wäre Gott in jedem Augenblick, in jedem Senfkorn, im Wolkenfetzen, der entsteht und sich im nächsten Augenblick wieder auflöst.
Gott war dort, und dennoch glaubten die Menschen, daß sie immer weiter suchen mußten, weil es zu einfach erschien zu akzeptieren, daß das Leben ein Akt des Glaubens war.
Er erinnerte sich an die unspektakuläre, einfache Übung, die der Sufi-Meister gelehrt hatte, als er darauf gewartet hatte, daß Veronika wieder ans Klavier ging: eine Rose anschauen.
Mehr nicht.
Dennoch saßen jetzt diese Leute, nachdem sie die Erfahrung tiefster Meditation gemacht hatten, nachdem sie den Visionen des Paradieses so nahe gewesen waren, da und stritten, diskutierten, kritisierten, stellten Theorien auf.
Seine Blicke kreuzten die von Mari. Sie mied ihn, doch Eduard war entschlossen, dieser Situation ein für allemal ein Ende zu bereiten. Er ging zu ihr und packte sie am Arm.
»Lass das, Eduard!«
Er hätte sagen können: >Komm mit mir!< Doch nicht vor all den Leuten, denn die hätten sich bestimmt über seine feste Stimme gewundert. Lieber kniete er vor ihr nieder und blickte sie einfach flehend an.
Alle lachten.
»Du bist eine Heilige für ihn geworden, Mari«, meinte jemand. »Das war die Meditation von gestern.«
Doch das jahrelange Schweigen hatte Eduard gelehrt, mit den Blicken zu sprechen. Er konnte seine ganze Energie in sie hineinlegen. Daher war er auch sicher, daß Veronika seine Zärtlichkeit und seine Liebe verstanden hatte. Er wußte, daß Mari seine Verzweiflung verstehen würde und warum er sie so sehr brauchte.
Sie zögerte noch ein wenig. Endlich stand sie auf und nahm ihn bei der Hand.
»Laß uns einen Spaziergang machen«, sagte sie. »Du bist ja ganz aufgeregt.«
Zusammen gingen sie in den Garten hinaus. Kaum waren sie außer Hörweite, fing Eduard zu sprechen an.
»Ich bin nun schon jahrelang hier in Villete. Ich habe aufgehört, meine Eltern zu blamieren, habe meine Ambitionen aufgegeben, doch die Visionen des Paradieses sind geblieben.
« »Das weiß ich«, sagte Mari. »Wir haben schon häufig darüber geredet. Und ich weiß auch, worauf du hinauswillst: Es ist Zeit für dich zu gehen.«
Eduard blickte in den Himmel. Sollte sie das gleiche fühlen?
»Und es ist wegen der jungen Frau«, fuhr Mari fort. »Wir haben schon viele Menschen hier drinnen sterben sehen, immer dann, wenn sie es am wenigsten erwarteten, und im allgemeinen dann, wenn sie das Leben aufgegeben hatten.
Doch dieses Mal passiert es zum ersten Mal mit einem jungen, hübschen, gesunden Mädchen, das noch so viel vor sich hat.
Veronika ist die einzige, die nicht immer in Villete bleiben wollte. Und das läßt uns die Frage stellen: Wie sieht es mit uns aus? Was suchen wir hier?«
Er nickte.
»Gestern abend habe ich mich das auch gefragt. Und ich kam zum Schluß, daß es viel interessanter wäre, auf dem Platz zu sein, auf den Drei Brücken, auf dem Markt vor dem Theater Äpfel zu kaufen und über das Wetter zu reden.
Natürlich würde ich mich mit längst vergessenen Dingen herumschlagen müssen, wie Rechnungen bezahlen, Nachbarn beschwichtigen, den ironischen Blick der Leute aushalten, die mich nicht verstehen, die Einsamkeit, die Klagen meiner Kinder. Doch ich denke, daß dies alles zum Leben gehört und daß der Preis, sich mit diesen kleinen Problemen auseinandersetzen zu müssen, viel geringer ist als der Preis, sie nicht als die unsrigen anzuerkennen.
Ich gedenke heute zu meinem Ex-Mann zu gehen, nur um ihm danke zu sagen. Was hältst du davon?«
»Nichts. Muß ich auch zu meinen Eltern gehen?« »Möglicherweise. Im Grunde liegt die Schuld an allem, was in unserem Leben geschieht, bei uns. Viele Menschen haben die gleichen Schwierigkeiten durchgemacht wie wir, doch sie haben anders reagiert. Wir haben den einfachsten Weg gewählt: eine abgetrennte Realität.«
Eduard wußte, daß Mari recht hatte.
»Ich möchte noch einmal anfangen zu leben, Eduard.
Möchte die Fehler begehen, die ich immer schon machen wollte, aber aus Feigheit nie begangen habe. Mich der Panik stellen, die wiederkommen kann, doch mich nur müde macht, denn ich werde ihretwegen weder sterben noch das Bewußtsein verlieren, das weiß ich genau. Ich kann neue Freunde finden und ihnen beibringen, verrückt zu sein, damit sie weise werden. Ich werde ihnen sagen, daß sie nicht die Anstandsregeln befolgen, sondern ihr eigenes Leben, Wünsche, Abenteuer entdecken und LEBEN sollen! Ich werde für die Katholiken aus den Sprüchen des Predigers Salomo zitieren, für die Moslems aus dem Koran, für die Juden aus der Thora, für die Atheisten aus den Texten des Aristoteles.
Ich will nie wieder Anwältin sein, doch ich kann meine Erfahrung nutzen und Vorträge über Menschen halten, die die Wahrheit dieses Lebens kennengelernt haben und deren Schriften in einem einzigen Wort zusammengefaßt werden können: >Lebe! Wenn du lebst, wird Gott mit dir leben.
Wenn du dich weigerst, Seine Risiken einzugehen, wird Er in den fernen Himmel zurückkehren und nur noch das Thema für philosophische Spekulationen sein!< Jeder weiß das, doch niemand tut den ersten Schritt. Vielleicht aus Angst davor, daß man ihn für verrückt hält. Und diese Angst haben wir zumindest nicht mehr, Eduard. Wir haben Villete hinter uns.«
»Wir können nur nicht für den Posten eines Präsidenten der Republik kandidieren. Die Opposition würde unsere Vergangenheit ausschlachten.«
Mari lachte und stimmte ihm zu.
»Ich habe das Leben hier satt. Ich weiß nicht, ob ich meine Angst überwinden kann, aber ich habe die >Bruderschaft< satt, diesen Garten, Villete, ich habe es satt, so zu tun, als wäre ich verrückt.«
»Und wenn ich's tue, tust du's dann auch?«
»Du wirst es nicht tun.«
»Ich habe es vor ein paar Minuten beinahe getan.«
»Ich weiß nicht. Ich habe dies alles so satt, aber ich bin es gewöhnt.«
»Als ich hier mit der Diagnose Schizophrenie eingeliefert wurde, hast du dich tagelang, monatelang um mich gekümmert und mich immer wie ein menschliches Wesen behandelt. Ich habe mich auch an das Leben gewöhnt, das ich zu leben beschlossen hatte, an die andere Realität, die ich geschaffen habe, doch du hast es nicht zugelassen. Ich habe dich schon manchmal dafür gehaßt, doch heute liebe ich dich dafür. Ich möchte, daß du Villete verläßt, Mari, so wie ich aus meiner abgetrennten Welt herausgekommen bin.«
Mari entfernte sich wortlos.