>Wenn ich mich übergebe, sterbe ich nicht.< Sie beschloß, die Krämpfe zu ignorieren, und konzentrierte sich lieber auf die schnell hereinbrechende Dunkelheit, auf die Bolivianer, auf die Ladenbesitzer, die einer nach dem ändern ihre Geschäfte schlössen und nach Hause gingen. Das Brausen in ihren Ohren wurde immer schriller, und zum ersten Mal, seit sie die Tabletten genommen hatte, verspürte Veronika Angst, schreckliche Angst vor dem Unbekannten.
Doch es dauerte nicht lange, und sie verlor das Bewußtsein.
Als sie die Augen öffnete, dachte Veronika nicht >Das muß der Himmel sein<. Im Himmel gab's keine Neonröhren, und der Schmerz, der unmittelbar darauf einsetzte, war etwas typisch Irdisches, ein einzigartiger, typisch irdischer Schmerz. Sie wollte sich bewegen, aber das tat weh. Leuchtende Sterne tanzten vor ihren Augen, und Veronika begriff, daß diese Sterne nicht zum Paradies gehörten, sondern von ihren ungeheuren Schmerzen herrührten.
»Sie kommt zu sich«, hörte sie eine Frauenstimme sagen.
Und dann: »Sie sind schnurstracks in die Hölle gekommen, jetzt sehen Sie zu, wie Sie damit fertigwerden.«
Nein, das konnte nicht wahr sein, diese Stimme log. Das war nicht die Hölle, denn ihr war eiskalt und sie bemerkte, daß Plastikschläuche aus ihrem Mund und ihrer Nase ragten.
Einer dieser Schläuche, der tief in ihrem Hals steckte, würgte sie.
Sie wollte ihn herauszuziehen, doch ihre Arme waren festgebunden.
»Ich mache nur Spaß, das ist nicht die Hölle«, fuhr die Stimme fort. »Es ist schlimmer als die Hölle, wo ich im übrigen noch nie gewesen bin. Es ist Villete.«
Trotz der Schmerzen und der würgenden Sonde begriff Veronika sofort, was geschehen war. Sie hatte einen Selbstmordversuch gemacht, und jemand war rechtzeitig gekommen, um sie zu retten. Vielleicht eine Nonne, eine Freundin, die unangemeldet vorbeigeschaut hatte, jemand, der ihr unerwartet etwas vorbeibringen wollte. Tatsache war, sie hatte überlebt und befand sich in Villete.
Villete, das berühmt-berüchtigte Irrenhaus, das seit 1991, dem Jahr der slowenischen Unabhängigkeit, existierte. Damals glaubte man noch, daß die Teilung Jugoslawiens friedlich vonstatten gehen würde (in der Tat mußte Slowenien nur elf Tage Krieg durchmachen); damals wurde eine Gruppe europäischer Unternehmer autorisiert, eine alte Kaserne, deren Unterhalt zu teuer geworden war, in eine Klinik für Geisteskranke umzuwandeln.
Doch kurz darauf brach der Krieg aus: erst in Kroatien, dann in Bosnien. Die Geschäftsleute machten sich Sorgen: Die Investoren waren über die ganze Welt verstreut, und keiner wußte, wer sie waren, so daß man sie nicht zu einer Sitzung bitten konnte, um ihnen ein paar Entschuldigungen vorzutragen und sie um Geduld zu bitten. Sie lösten das Problem, indem sie ein paar für eine psychiatrische Anstalt nicht gerade empfehlenswerte Praktiken übernahmen; und in dem jungen Land, das gerade einen liberalen Kommunismus abgeschüttelt hatte, wurde Villete zum Symbol der schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus: Man brauchte nur zu zahlen, um in die Klinik aufgenommen zu werden.
Es gab genug Leute, die wegen Erbstreitigkeiten oder peinlichen Benehmens ein Familienmitglied loswerden und ein Vermögen für ein ärztliches Attest ausgeben wollten, das ihnen erlaubte, ihre Problemkinder oder -eltern einzuweisen.
Andere wiederum ließen sich für beschränkte Zeit selbst in die Anstalt einweisen, um Gläubigern zu entgehen oder bei schweren Straftaten Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit zu erwecken, und kamen so ungeschoren davon. Villete, der Ort, von wo noch nie jemand ausgebrochen war.
Wo die wirklich Verrückten — die vom Richter oder von anderen Spitälern eingewiesen worden waren — mit den anderen, deren Geisteskrankheit nicht nachgewiesen oder nur vorgetäuscht war, zusammenlebten. Das Ergebnis war ein wahres Durcheinander, und die Presse publizierte ständig Geschichten über Mißhandlungen und Mißbrauch, obwohl keiner je vor Ort hatte ermitteln dürfen. Die Regierung ging zwar den Klagen nach, konnte jedoch nichts beweisen; die Aktionäre konterten mit der Drohung, überall herumzuerzählen, welche Schwierigkeiten ausländische Investoren in Slowenien zu gewärtigen hatten. Und so bestand Villete fort und brachte es sogar zu einiger Blüte.
»Meine Tante hat vor ein paar Monaten Selbstmord begangen
«, fuhr die Frauenstimme fort. »Acht Jahre lang hatte sie sich nicht aus ihrem Zimmer getraut, hat nur gegessen, zugenommen, geraucht, Beruhigungsmittel genommen und fast die ganze Zeit geschlafen. Sie hatte zwei Töchter und einen Mann, der sie liebte.« Veronika versuchte ihren Kopf in die Richtung der Stimme zu wenden, was ihr aber nicht gelang.
»Nur einmal hat sie reagiert. Das war, als ihr Mann sich eine Geliebte anschaffte. Da hat sie einen Aufstand gemacht, ein paar Kilos abgenommen, Gläser zerschmissen und wochenlang den Nachbarn mit ihrem Geschrei den Schlaf geraubt.
Doch so absurd es auch klingen mag, ich glaube, das war ihre glücklichste Zeit. Sie fühlte sich lebendig und stellte sich den Herausforderungen.«
>Was hat das mit mir zu tun?<, fragte sich Veronika. >Ich bin nicht ihre Tante, und ich habe keinen Mann.<
»Am Ende hat der Mann seine Geliebte verlassen«, fuhr die Frau fort, »und meine Tante kehrte allmählich zu ihrer gewohnten Passivität zurück. Eines Tages rief sie mich an und sagte mir, daß sie ihr Leben geändert und mit dem Rauchen aufgehört habe. In derselben Woche, nachdem sie die Dosis Beruhigungsmittel erhöht hatte, weil sie nicht mehr rauchte, gab sie allen bekannt, daß sie sich umbringen wollte.
Niemand glaubte ihr. Eines Morgens hinterließ sie mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, in der sie sich von mir verabschiedete, und brachte sich mit Gas um. Ich hörte mir diese Nachricht mehrfach an. Nie zuvor hatte ihre Stimme so ruhig, so eins mit ihrem Schicksal und gelassen geklungen. Sie sagte, sie sei weder glücklich noch unglücklich und hielte es daher nicht weiter aus.«
Veronika tat die Frau leid, die diese Geschichte erzählte und den Tod ihrer Tante zu begreifen versuchte. Wie sollte man in einer Welt, in der man um jeden Preis versucht zu überleben, Menschen beurteilen, die zu sterben beschließen?
Keinem kommt ein Urteil zu. Jeder kennt nur das Ausmaß des eigenen Leidens oder die Sinnlosigkeit des eigenen Lebens, wollte Veronika sagen, doch wegen des Schlauchs in ihrem Mund brachte sie nur ein Würgen heraus. Die Frau kam ihr zu Hilfe.
Die Frau beugte sich über die Fesseln, Schläuche und Sonden, die Veronika gegen ihren Willen vor Selbstzerstörung schützen sollten. Veronika warf den Kopf hin und her, flehte mit den Blicken, ihr die Schläuche herauszunehmen, sie in Frieden sterben zu lassen.
»Sie sind erregt«, sagte die Frau. »Ich weiß nicht, ob Sie es bereuen oder ob Sie immer noch sterben wollen, doch das interessiert mich nicht. Ich mache hier nur meine Arbeit.
Wenn ein Patient erregt ist, muß ich ihm ein Beruhigungsmittel geben.«
Veronika hörte auf, sich zu wehren, doch die Krankenschwester gab ihr schon eine Spritze in den Arm. Kurz darauf befand sie sich wieder in einer fremden traumlosen Welt, in der das einzige, an das sie sich erinnern konnte, das Gesicht der Frau war, die sie gerade gesehen hatte: grüne Augen, braunes Haar und die unbeteiligte Miene eines Menschen, der Dienst nach Vorschrift tut, ohne seine Handlungen zu hinterfragen.
Paulo Coelho erfuhr die Geschichte von Veronika drei Monate später, als er in einem algerischen Restaurant in Paris mit einer slowenischen Freundin zu Abend aß, die ebenfalls Veronika hieß und Tochter des Chefarztes von Villete war.
Später, als er sich entschloß, ein Buch darüber zu schreiben, dachte er daran, den Namen Veronikas, seiner Freundin, zu ändern, um die Leser nicht zu verwirren. Er dachte daran, ihr den Namen Blaska oder Edwina oder Marietzja oder irgendeinen anderen slowenischen Namen zu geben. Doch am Ende beschloß er, die wahren Namen beizubehalten. Wenn er Veronika, seine Freundin, meinte, würde er sie »meine Freundin Veronika« nennen. Der anderen Veronika brauchte er keinerlei nähere Bestimmung hinzuzufügen, denn sie würde die Hauptperson des Buches sein und müßte den Lesern nicht ständig mit irritierenden Zusätzen wie