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In der kleinen, nie besuchten Bibliothek von Villete fand Eduard weder den Koran noch Aristoteles noch die anderen Philosophen, die Mari erwähnt hatte. Doch da war der Text eines Dichters: Daher sagte ich zu mir: Das Schicksal des Unvernünftigen wird auch meines sein.

Geh, iß dein Brot in Freuden

Und genieße deinen Wein,

Denn Gott hat deine Werke angenommen.

Laß stets weiß sein deine Kleider, Und laß es auch auf deinem Kopf an Parfüm nicht mangeln.

Genieße das Leben mit der geliebten Frau An allen den eitlen Tagen, die Gott dir Unter der Sonne zugesteht.

Denn dies ist dein Anteil am Leben Und an der Arbeit, die du unter der Sonne tust. Folge den Wegen deines Herzens Und dem Wunsch deiner Augen, Und wisse, daß Gott am Ende mit dir abrechnen wird.

»Gott wird am Ende mit dir abrechnen«, sagte Eduard laut.

Und ich werde sagen: Eine Zeitlang habe ich dem Wind zugeschaut und habe vergessen zu säen, ich habe meine Tage nicht genossen, nicht einmal den Wein getrunken, der mir angeboten wurde. Doch eines Tages hielt ich die Stunde für gekommen, um zu meiner Arbeit zurückzukehren. Ich habe den Menschen von meinen Visionen des Paradieses erzählt, wie vor mir Bosch, Van Gogh, Wagner, Beethoven, Einstein und andere Verrückte. Gut. Er wird sagen, daß ich die Anstalt verlassen habe, weil ich nicht zusehen wollte, wie ein Mädchen starb. Doch sie wird dort im Himmel sein und für mich eintreten.«

»Was sagen Sie da?« unterbrach ihn die Bibliothekarin. »Ich will Villete jetzt verlassen«, antwortete Eduard lauter als gewöhnlich. »Ich habe zu tun.«

Die Angestellte drückte auf eine Klingel, und kurz darauf erschienen die Krankenpfleger.

»Ich will raus«, wiederholte Eduard erregt. »Es geht mir gut, lassen Sie mich mit Dr. Igor reden.«

Doch die beiden Männer hatten ihn schon gepackt, jeder an einem Arm. Eduard versuchte sich loszureißen, obwohl er von vornherein wußte, daß es zwecklos war.

Trotzdem begann er sich zu wehren.

»Lassen Sie mich mit Dr. Igor sprechen. Ich habe ihm viel zu sagen, ich bin sicher, er wird mich anhören.«

»Sie haben eine Krise, beruhigen Sie sich«, sagte einer.

»Wir kümmern uns darum.«

»Lassen Sie mich los!« schrie er. »Lassen Sie mich nur eine Minute mit ihm reden.«

Der Weg in die Krankenstation führte mitten durch den Aufenthaltsraum. Als der um sich schlagende Eduard an den versammelten Patienten vorbeigeführt wurde, kam Unruhe auf.

»Laßt ihn los! Er ist verrückt.«

Einige lachten, anderen schlugen mit den Händen auf Tische und Stühle.

»Das hier ist ein Irrenhaus! Niemand hier muß sich so aufführen wie ihr!«

»Wir müssen ihnen einen Schrecken einjagen, sonst gerät die Lage völlig aus dem Ruder«, flüsterte der eine Pfleger dem anderen zu.

»Da gibt es nur eins.«

»Dr. Igor wird das gar nicht gefallen.« »Es wird ihm noch weniger gefallen, wenn die Irren ihm seine geliebte Anstalt kurz und klein schlagen.«

Veronika schreckte schweiß gebadet hoch. Draußen herrschte großer Lärm, und sie brauchte Stille, um weiterzuschla-fen.

Doch der Radau ging weiter.

Sie stand etwas wacklig auf, ging zum Aufenthaltsraum und sah gerade noch, wie Eduard weggeschleppt wurde, während noch mehr Krankenpfleger eilig mit fertig aufgezogenen Spritzen angelaufen kamen.

»Was machen Sie da?« rief sie.

»Veronika!«

Der Schizophrene hatte mit ihr gesprochen! Er hatte ihren Namen gesagt! Halb verwirrt, halb überrascht versuchte sie sich zu nähern, doch einer der Krankenpfleger hinderte sie daran.

»Was soll das? Ich bin nicht hier, weil ich verrückt bin!

Sie dürfen mich nicht so behandeln!«

Sie stieß den Krankenpfleger weg, während die anderen Insassen schrien und ein solches Tohuwabohu aufführten, daß ihr angst und bange wurde.

»Veronika!«

Er hatte ihren Namen noch einmal gesagt. Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es Eduard, sich von den zwei Männern zu befreien. Anstatt wegzulaufen, blieb er stehen, genau wie in der vorangegangenen Nacht. Wie durch Zauberhand waren alle plötzlich still und warteten auf das, was nun geschehen würde.

Einer der Krankenpfleger kam wieder auf ihn zu, doch Eduard blickte ihn bloß an. »Ich komme mit Ihnen. Ich weiß, wohin Sie mich bringen wollen, und auch, daß Sie wollen, daß alle es wissen.

Warten Sie einen Moment.«

Der Krankenpfleger entschied, daß es lohnte, das Risiko einzugehen. Schließlich schien alles wieder normal zu sein.

»Ich glaube, daß du ... ich glaube, daß du wichtig für mich bist«, sagte Eduard zu Veronika.

»Du kannst nicht sprechen. Du lebst nicht in dieser Welt, du weißt nicht, daß ich Veronika heiße. Du warst gestern nacht nicht bei mir, bitte sag, daß du es nicht warst!«

»Und wie ich da war!«

Sie nahm seine Hand. Die Verrückten schrien, applaudierten, brüllten Obszönitäten.

»Wohin bringen sie dich?«

»Zu einer Behandlung.«

»Ich gehe mit dir.«

»Besser nicht. Es wird dich erschrecken. Auch wenn ich dir versichere, daß es nicht weh tut, man spürt überhaupt nichts. Es ist viel besser als Beruhigungsmittel, weil der Verstand schnell wieder klar wird.«

Veronika wußte nicht, wovon er redete. Sie bereute es, seine Hand gepackt zu haben, wollte so schnell wie möglich gehen, ihr Gefühl der Scham verbergen, diesen Mann nie wiedersehen, der ihre niedrigsten Regungen erlebt hatte und sie dennoch voller Zärtlichkeit behandelte.

Sie erinnerte sich wieder an Maris Worte: Sie brauchte über ihr Leben keine Rechenschaft abzugeben, auch nicht dem jungen Mann vor ihr. »Ich gehe mit dir.«

Die Krankenpfleger fanden, daß das womöglich auch besser war, denn so mußten sie den Schizophrenen nicht mehr zwingen. Er ging freiwillig mit.

Als sie im Schlafsaal ankamen, legte sich Eduard aus freien Stücken aufs Bett. Zwei Männer warteten schon mit einer merkwürdigen Maschine und einer Tasche mit Stoffbahnen auf ihn.

Eduard wandte sich an Veronika und bat sie, sich auf das Nebenbett zu setzen.

»In ein paar Minuten wird die Geschichte in ganz Villete die Runde machen. Und die Leute werden sich beruhigen, weil selbst in der größten Verrücktheit immer noch ein bißchen Angst schlummert. Nur wer dies schon durchgemacht hat, weiß, daß es so schlimm nun auch wieder nicht ist.«

Die Krankenpfleger trauten ihren Ohren kaum. Es mußte wahnsinnig weh tun — doch niemand konnte wissen, was im Kopf eines Verrückten vor sich ging. Das einzig Vernünftige, was der Junge gesagt hatte, betraf die Angst.

Die Geschichte würde in ganz Villete die Runde machen, und es würde schnell wieder Ruhe einkehren.

»Sie haben sich zu früh hingelegt«, sagte einer von ihnen.

Eduard stand wieder auf, und sie legten eine Art Gummidecke aus. »Jetzt können Sie sich wieder hinlegen.«

Er gehorchte. Er war ruhig, als wäre das nur eine Routineangelegenheit.

Die Krankenpfleger zurrten die Stoffbahnen um Eduards Körper fest und steckten ihm einen Gegenstand aus Gummi in den Mund. »Das ist, damit er sich nicht aus Versehen in die Zunge beißt«, erklärte einer der Männer Veronika, sichtlich zufrieden, die Warnung mit einer technischen Information verbinden zu können.

Sie stellten die merkwürdige Maschine, die nicht viel größer war als ein Schuhkarton, mit ein paar Knöpfen und drei Zifferblättern mit Zeigern auf den Stuhl neben das Bett.

Zwei Drähte kamen aus dem oberen Teil heraus und endeten in etwas Kopfhörerähnlichem.

Einer der Krankenpfleger setzte die Kopfhörer auf Eduards Schläfen. Der andere schien den Mechanismus zu regulieren, indem er erst ein paar Knöpfe nach rechts, dann nach links drehte. Obwohl Eduard wegen des Gummigegenstandes nicht sprechen konnte, sah er Veronika in die Augen und schien zu sagen: »Mach dir keine Sorgen, erschrick nicht.«