»Ist auf 130 Volt und 0,3 Sekunden eingestellt«, sagte der Krankenpfleger, der sich um die Maschine kümmerte.
»Los!«
Er drückte auf einen Knopf, und die Maschine summte. In diesem Augenblick wurden Eduards Augen glasig, sein Körper bäumte sich im Bett so heftig auf, daß Eduard, wenn er nicht mit den Stoffbahnen festgebunden gewesen wäre, die Wirbelsäule hätte brechen können.
»Hört auf damit!« schrie Veronika.
»Wir haben ja schon aufgehört«, antwortete der Krankenpfleger, während er Eduard die Kopfhörer abnahm. Dennoch wand sich der Körper immer noch, und der Kopf schaukelte so heftig von einer Seite zur anderen, daß einer der Männer ihn schließlich festhielt. Der andere steckte den Apparat in eine Tasche und setzte sich hin, um eine Zigarette zu rauchen.
Diese Szene hatte ein paar Minuten gedauert. Der Körper kehrte wieder zur Normalität zurück, und dann begannen die Krämpfe wieder, während einer der Krankenpfleger sich doppelt anstrengte, um Eduards Kopf festzuhalten.
Ganz allmählich nahmen die Kontraktionen ab, bis sie schließlich ganz aufhörten. Eduard hatte die Augen geöffnet, und einer der Männer schloß sie wie bei einem Toten.
Dann zog er den Gummigegenstand aus dem Mund des jungen Mannes, band ihn los und steckte die Stoffbahnen in die Tasche, in der sich schon der Apparat befand.
»Der Elektroschock wirkt eine Stunde«, sagte er zum Mädchen, das nun nicht mehr schrie und von dem, was sie sah, wie hypnotisiert war. »Es ist alles in Ordnung, er kommt gleich wieder zu sich und wird dann ruhiger sein.«
Als ihn der Elektroschock erreichte, fühlte Eduard, was er schon die Male zuvor erlebt hatte: Das Gesichtsfeld engte sich ein, als würde ein Vorhang geschlossen, bis alles ganz verschwand. Es gab weder Schmerz noch Leiden, doch er hatte schon zugesehen, wenn andere Verrückte mit Elektroschocks behandelt wurden, und wußte, wie grauenhaft es wirkte.
Eduard spürte jetzt Frieden. Wenn er Augenblicke zuvor eine Art neues Gefühl in seinem Herzen gespürt hatte, wenn er zu begreifen begann, daß Liebe nicht nur war, was ihm seine Eltern gaben, dann würde der Elektroschock -
oder die Elektrokonvulsive Therapie — ihn ganz gewiß wieder in die Normalität zurückkehren lassen.
Die Wirkung des Elektroschocks lag hauptsächlich darin, daß er vergessen ließ, was sich im Kurzzeitgedächtnis befand.
Eduard konnte keine unmöglichen Träume hegen. Er konnte nicht in eine nicht vorhandene Zukunft blicken.
Seine Gedanken mußten sich auf die Vergangenheit richten, sonst würde er am Ende wieder zurück ins Leben wollen.
Um ein Uhr mittags kam Zedka in die beinahe menschenleere Krankenstation. Es war nur das Bett belegt, in dem der junge Mann lag. Und auf einem Stuhl saß die junge Frau.
Als sie näher kam, sah sie, daß die junge Frau sich erneut übergeben hatte und ihr Kopf nach unten hing und hinund herpendelte.
Zedka wollte schon Hilfe holen, doch Veronika hob den Kopf.
»Es ist nichts«, sagte sie. »Ich hatte wieder einen Anfall, doch er ist schon vorbei.«
Zedka führte sie liebevoll ins Bad.
»Das ist das Bad für die Männer«, sagte das Mädchen.
»Es ist niemand da, mach dir keine Sorgen.«
Sie zog ihr den nassen Pullover aus, wusch ihn und legte ihn auf die Heizung. Dann zog sie ihre Wollbluse aus und gab sie Veronika.
»Behalte sie. Ich war gekommen, um mich zu verabschieden.«
Das Mädchen schien geistesabwesend zu sein, als würde sie nichts mehr interessieren. Zedka führte sie wieder zu dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte.
»Eduard wird bald wieder aufwachen. Vielleicht wird es ihm schwerfallen, sich an das zu erinnern, was geschehen ist, doch das Gedächtnis wird schnell wieder zurückkehren.
Erschrick nicht, wenn er dich im ersten Augenblick nicht erkennt.«
»Tu ich nicht«, antwortete Veronika. »Denn ich erkenne mich selber nicht mehr.«
Zedka zog einen Stuhl heran, setzte sich neben sie. Sie war so lange in Villete gewesen, daß es nun auch nichts mehr ausmachte, wenn sie ein paar Minuten bei diesem Mädchen blieb.
»Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung? Damals habe ich dir eine Geschichte erzählt, um dir zu erklären, daß die Welt genauso ist, wie wir sie sehen. Alle fanden, daß der König verrückt war, weil er eine Ordnung wollte, die in den Köpfen seiner Untertanen nicht mehr vorhanden war.
Es gibt allerdings Dinge im Leben, die bleiben dieselben, wie auch immer wir sie betrachten. Und das gilt für alle Menschen. Wie beispielsweise die Liebe.«
Zedka bemerkte, daß sich Veronikas Blick verändert hatte. Sie beschloß fortzufahren.
»Ich würde sagen, wenn einem Menschen nur wenig Zeit zum Leben bleibt und er beschließt, den Rest seines Lebens an einem Bett zu sitzen und einen schlafenden Mann anzuschauen, dann ist Liebe im Spiel. Ich würde noch mehr sagen: Wenn dieser Mensch dabei einen Herzanfall hat und nichts sagt, nur damit er diesen Mann nicht verlassen muß, dann zeigt das, daß diese Liebe noch viel größer werden kann.«
»Es könnte auch Verzweiflung sein«, sagte Veronika,
»der Versuch zu beweisen, daß es letztlich keinen Grund gibt, unter der Sonne weiterzukämpfen. Ich kann nicht in einen Mann verliebt sein, der in einer anderen Welt lebt.«
»Ein jeder von uns lebt in seiner eigenen Welt. Doch wenn du in den gestirnten Himmel blickst, dann siehst du, daß all diese verschiedenen Welten sich zu Konstellationen, Sonnensystemen, Galaxien verbinden.«
Veronika stand auf und trat ans Kopfende von Eduards Bett. Zärtlich strich sie ihm durchs Haar. Sie war glücklich, daß sie jemanden hatte, mit dem sie reden konnte.
»Vor vielen Jahren, als ich noch ein Kind war, hat mich meine Mutter gezwungen, Klavierspielen zu lernen. Ich sagte mir, daß ich das nur können würde, wenn ich verliebt wäre. Gestern nacht habe ich das erste Mal in meinem Leben gespürt, wie die Töne aus meinen Fingern kamen, als hätte ich keine Kontrolle über das, was ich tat.
Mich leitete eine Kraft, formte Melodien und Akkorde, von denen ich nie geglaubt hatte, daß ich sie einmal würde spielen können. Ich habe mich dem Klavierspiel hingegeben, wie ich mich zuvor diesem Mann hingegeben habe, ohne daß er auch nur ein Haar von mir berührt hätte. Gestern war ich nicht ich selber, weder als ich mich dem Sex hingegeben, noch als ich Klavier gespielt habe. Und dennoch denke ich, daß ich ich selber war.
Nichts, was ich da sage, macht einen Sinn«, meinte Veronika kopfschüttelnd.
Zedka erinnerte sich an all die Wesen, denen sie im Raum begegnet war und die in anderen Dimensionen schwebten.
Sie wollte Veronika davon erzählen, doch dann fürchtete sie, sie noch mehr durcheinanderzubringen.
»Bevor du noch einmal sagst, daß du sterben wirst, möchte ich dir etwas sagen: Es gibt Menschen, die verbringen ihr ganzes Leben mit der Suche nach einem Augenblick wie dem, den du gestern erlebt hast, und erreichen ihn nicht.
Deshalb sterbe, wenn du denn sterben mußt, mit einem Herzen voller Liebe.«
Zedka stand auf.
»Du hast nichts zu verlieren. Viele Menschen erlauben sich gerade aus diesem Grund, nicht zu lieben, weil zu viel, viel Zukunft und Vergangenheit auf dem Spiel stehen. In deinem Fall gibt es nur die Gegenwart.«
Sie kam näher und gab Veronika einen Kuß.
»Wenn ich noch länger hierbleibe, dann gehe ich überhaupt nicht mehr weg. Ich bin zwar von meiner Depression geheilt, aber ich habe in mir andere Formen von Verrücktheit entdeckt. Ich will sie mit mir nehmen und beginnen, das Leben mit meinen eigenen Augen zu sehen.
Als ich hierherkam, war ich eine depressive Frau. Heute bin ich verrückt und stolz darauf. Draußen werde ich mich genauso verhalten wie die anderen. Ich werde im Supermarkt einkaufen, mit meinen Freundinnen tratschen, eine Menge Zeit vor dem Fernseher vertrödeln. Doch ich weiß, daß meine Seele frei ist, und ich kann von anderen Welten träumen und mit ihnen sprechen, von denen ich, bevor ich hierherkam, keine Ahnung hatte.