»Nein.«
»Sie würden jemanden, der Sie das fragt, wahrscheinlich für verrückt halten, ihn mit irgendeiner Antwort abspeisen und anschließend das Thema wechseln.
Nun zu Ihrer Frage. Stellen Sie sie noch einmal!«
»Bin ich geheilt?«
»Nein. Sie sind jemand, der anders ist und den anderen gleichen möchte. Das ist meiner Meinung nach eine schwere Krankheit.«
»Ist es schlimm, anders zu sein?«
»Es ist schlimm, sich zu zwingen, wie die anderen zu sein. Das führt zu Neurosen, Psychosen, Paranoia. Es ist schlimm, wie die anderen sein zu wollen, weil das bedeutet, der Natur Gewalt anzutun, den Gesetzen Gottes zuwiderzuhandeln, der in allen Wäldern der Welt kein Blatt geschaffen hat, das dem anderen gleicht. Doch Sie finden, daß es Wahnsinn ist, anders zu sein, und haben deshalb Villete ausgesucht, um zu leben. Weil hier alle anders sind und Sie daher so sind wie die anderen. Haben Sie mich verstanden?«
Mari nickte. »Weil sie nicht den Mut haben, anders zu sein, handeln Menschen gegen ihre Natur, und der Körper beginnt Vitriol zu produzieren — oder Bitterkeit, wie dieses Gift gemeinhin genannt wird.«
»Was ist Vitriol?«
Dr. Igor merkte, daß er sich zu sehr hatte mitreißen lassen, und beschloß, das Thema zu wechseln.
»Was Vitriol ist, tut hier nichts zur Sache. Was ich damit sagen wollte, ist folgendes: Alles weist darauf hin, daß Sie nicht geheilt sind.«
Mari konnte auf eine jahrelange Gerichtserfahrung zurückblicken und fand, daß der Augenblick gekommen war, sie anzuwenden. Die erste Taktik bestand darin, daß man so tat, als stimme man seinem Gegner zu, um ihn anschließend mit einem anderen Gedankengang zu übertölpeln.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich bin aus einem ganz konkreten Grund hierhergekommen — dem Paniksyndrom — und aus einem sehr abstrakten Grund geblieben: der Unfähigkeit, ein anderes Leben ohne Arbeit und ohne Ehemann in Angriff zu nehmen. Ich bin ganz Ihrer Meinung: Ich hatte die Lust daran verloren, ein neues Leben zu beginnen, an das ich mich hätte gewöhnen müssen. Und ich gehe noch weiter: Ich finde, daß eine psychiatrische Anstalt auch mit Elektroschocks — Verzeihung, EKT, wie Sie es zu nennen belieben -, mit ihren festen Zeiten, den hysterischen Anfällen einiger Insassen, den Regeln leichter zu ertragen ist als die Welt mit ihren Gesetzen, die, wie Sie sagen, alles tun, um Gleichheit zu erzeugen.
Nun habe ich gestern nacht eine Frau Klavier spielen hören. Sie spielte meisterhaft. So habe ich selten jemanden spielen hören. Während ich die Stücke anhörte, dachte ich an alle, die gelitten haben, um diese Sonaten, Preludien, Adagios zu komponieren, daran, wie sie ausgelacht wurden, wenn sie ihre Stücke — die anders waren — denen vorspielten, die in der Musikwelt das Sagen hatten. An die Schwierigkeiten und die Erniedrigungen, um jemanden zu finden, der ein Orchester finanzierte. An die Buhrufe, die sie von einem Publikum erhielten, das derartige Harmonien noch nicht gewohnt war.
Die Komponisten mögen es schwergehabt haben, doch diese junge Frau hat noch mehr gelitten, denn sie wußte, daß sie sehr bald sterben würde. Und ich, werde ich nicht auch sterben? Wo habe ich meine Seele gelassen, um die Musik meines Lebens mit der gleichen Begeisterung zu spielen?«
Dr. Igor hörte ihr schweigend zu. Was er gedacht hatte, schien aufzugehen. Doch es war noch zu früh, um Gewißheit zu haben.
»Wo ist meine Seele geblieben?« fragte Mari. »In meiner Vergangenheit. In der Vorstellung von dem, was ich als mein Leben ansah. Meine Seele war in dem Augenblick gefangen, als ich ein Haus, einen Ehemann, eine Anstellung hatte, von der ich mich befreien wollte, jedoch nie den Mut hatte, es zu tun.
Meine Seele befand sich in der Vergangenheit. Doch heute ist sie hier angelangt, und ich fühle sie wieder voller Begeisterung in meinem Körper. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Ich weiß nur, daß ich drei Jahre gebraucht habe, um zu begreifen, daß das Leben mich auf einen anderen Weg drängte, den ich nicht gehen wollte.« »Ich glaube, ich sehe Anzeichen einer Besserung«, sagte Dr. Igor.
»Ich hätte nicht darum bitten müssen, Villete zu verlassen.
Ich hätte einfach nur durch das Tor hinausgehen und nie wieder kommen können. Ich mußte es aber jemandem sagen, und darum sage ich's Ihnen: Der Tod dieses Mädchens hat mich mein Leben begreifen lassen.«
»Mir scheint, diese Anzeichen einer Besserung verwandeln sich in eine Wunderheilung«, lachte Dr. Igor. »Und was wollen Sie nun tun?«
»Nach El Salvador gehen und mich um die Straßenkinder kümmern.«
»Sie brauchen nicht so weit weg zu gehen, weniger als zweihundert Kilometer entfernt liegt Sarajewo. Der Krieg ist zu Ende, doch die Probleme gehen weiter.«
»Dann gehe ich nach Sarajewo.«
Dr. Igor holte ein Formular aus der Schublade, füllte es sorgfältig aus. Dann erhob er sich und geleitete Mari zur Tür.
»Gehen Sie mit Gott«, sagte er, kehrte in sein Arbeitszimmer zurück und schloß sogleich die Tür. Es mißfiel ihm, wenn er seine Patienten liebgewann, doch verhindern konnte er es nie. Mari würde in Villete fehlen.
Als Eduard die Augen öffnete, war die junge Frau noch da.
Während seiner ersten Elektroschocks hatte er anschließend immer viel Zeit damit verbracht zu versuchen, sich an das zu erinnern, was vorher geschehen war. Darin lag ja auch gerade der erwünschte therapeutische Effekt, nämlich eine partielle Amnesie zu erzeugen, damit der Kranke das Problem vergaß, das ihn bedrängte, und er sich beruhigte.
Doch je häufiger er Elektroschocks bekam, desto kürzer hielt die Wirkung an. Er erkannte die junge Frau sofort.
»Du hast von den Visionen des Paradieses gesprochen, während du geschlafen hast«, sagte sie und strich ihm übers Haar.
Visionen des Paradieses? Ja, Visionen des Paradieses.
Eduard blickte sie an. Er wollte ihr alles erzählen.
In diesem Augenblick kam jedoch eine Krankenschwester mit einer Spritze herein.
»Die ist für Sie«, sagte sie zu Veronika. »Anweisungen von Dr. Igor.«
»Ich habe aber heute schon eine gehabt, ich will keine zweite«, antwortete sie. »Ich bin auch nicht daran interessiert, hier rauszugehen. Ich werde keine Anordnung, keine Regel befolgen, nicht tun, wozu Sie mich zwingen.«
Die Krankenschwester schien diese Art Reaktion gewohnt zu sein
»Dann müssen wir Ihnen leider ein Beruhigungsmittel geben.«
»Ich muß mit dir reden«, sagte Eduard. »Laß dir die Spritze geben.«
Veronika schob den Pulloverärmel hoch, und die Krankenschwester spritzte ihr das Mittel.
»Braves Mädchen«, sagte sie. »Hier ist es so düster.
Warum gehen Sie nicht draußen etwas spazieren?«
»Schämst du dich noch wegen gestern abend?« fragte Eduard, während sie durch den Garten gingen.
»Erst habe ich mich geschämt. Jetzt bin ich stolz darauf.
Ich möchte etwas über die Visionen des Paradieses wissen.
Warum war ich kurz davor, eine zu sehen?«
»Dazu muß ich weit über die Gebäude von Villete hinweg in die Vergangenheit zurückschauen.«
»Tu das!«
Eduard blickte nicht auf die Mauern der Krankenstation oder in den Garten, in dem die Insassen schweigend herumspazierten, sondern zurück in die Vergangenheit zu einer Straße auf einem anderen Kontinent zu einem Ort, an dem es entweder viel regnete oder überhaupt nicht.
Eduard konnte den erdigen Geruch seiner früheren Heimat förmlich riechen — es war Trockenzeit, und der Staub drang in seine Nase, und er freute sich, weil der Geruch ihn belebte.
Er war wieder siebzehn Jahre alt und mit seinem importierten Fahrrad auf dem Heimweg von der Amerikanischen Schule, die auch alle anderen Diplomatenkinder in Brasilia besuchten.