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Er haßte Brasilia, doch er liebte die Brasilianer. Sein Vater war zwei Jahre zuvor zum Botschafter Jugoslawiens ernannt worden, zu einer Zeit, als niemand an die blutige Teilung des Landes dachte. Milosevic war noch an der Macht. Die Menschen lebten mit ihren Gegensätzen und versuchten, jenseits der regionalen Konflikte das Zusammenleben harmonisch zu gestalten.

Der erste Posten seines Vaters war ausgerechnet Brasilia.

Eduard hatte von Stranden, von Karneval, Fußballspielen, Musik geträumt, doch er landete in dieser Hauptstadt fern der Küste, die nur für Politiker, Bürokraten, Diplomaten und deren Familien geschaffen worden war, die sich dort etwas verloren vorkamen.

Eduard haßte das Leben dort. Er vergrub sich ins Lernen, versuchte erfolglos, Freundschaft mit seinen Klassenkameraden zu schließen. Versuchte ebenso erfolglos, sich für Autos, Markenturnschuhe, Designerklamotten zu interessieren, die einzigen Gesprächsthemen unter den Jugendlichen.

Hin und wieder gab es Parties, bei denen sich die Jungen auf der einen Seite des Raumes betranken und die Mädchen auf der anderen Seite so taten, als wären sie Luft. Drogen waren immer in Umlauf, und Eduard hatte praktisch alle schon ausprobiert. Doch keine hatte ihm zugesagt. Entweder wurde er davon zu aufgedreht oder zu schläfrig und verlor das Interesse an dem, was um ihn herum geschah.

Seine Eltern machten sich Sorgen. So konnte es nicht weitergehen, schließlich sollte Eduard in die Fußstapfen seines Vaters treten und ebenfalls Diplomat werden. Doch obwohl Eduard fast alle dazu notwendigen Talente besaß — Lerneifer, guten künstlerischen Geschmack, Sprachbegabung, Interesse an Politik -, fehlte ihm die unabdingbare Grundbegabung eines zukünftigen Diplomaten, nämlich Kontaktfreudigkeit.

Seine Eltern nahmen ihn mit zu festlichen Anlässen, ihr Haus stand seinen Schulkameraden offen, er erhielt ein gutes Taschengeld. Dennoch brachte Eduard selten jemanden mit.

Eines Tages fragte seine Mutter ihn, weshalb er nie Freunde zum Essen mitbrachte.

»Ich kenne alle Turnschuhmarken, die Namen aller Mädchen, die man leicht ins Bett kriegt. Weiter haben wir uns nichts zu sagen.«

Bis diese Brasilianerin auftauchte. Der Botschafter und seine Frau waren beruhigt, als ihr Sohn anfing auszugehen, spät nach Hause zu kommen. Niemand wußte genau, woher sie gekommen war, doch eines Abends brachte sie Eduard zum Essen mit. Das Mädchen war wohlerzogen, und sie waren zufrieden. Ihr Junge schien endlich kontaktfreudiger zu werden. Außerdem enthob sie dieses Mädchen einer unausgesprochenen großen Sorge: Eduard war nicht homosexuell.

Sie nahmen Maria mit offenen Armen auf, wie künftige Schwiegereltern, obgleich sie wußten, daß Eduards Vater in zwei Jahren versetzt würde, und obwohl eine Schwiegertochter aus einem so exotischen Land für sie nicht in Frage kam. Ihrer Vorstellung nach sollte ihr Sohn ein Mädchen aus einer guten Familie in Frankreich oder Deutschland finden, die würdig die glänzende Diplomatenkarriere begleitete, für die der Vater ihm den Weg ebnete.

Eduard hingegen wirkte immer verliebter. Seine Mutter wandte sich besorgt an ihren Mann.

»Die Kunst der Diplomatie besteht darin, den Gegner hinzuhalten«, sagte der Botschafter. »Über die erste Liebe kommen viele nie hinweg, doch von Dauer ist sie trotzdem nie.«

Aber Eduard war wie verwandelt. Er brachte merkwürdige Bücher mit nach Hause, baute in seinem Zimmer eine Pyramide auf und brannte zusammen mit Maria jede Nacht Räucherstäbchen ab und saß mit ihr versunken vor einer an die Wand gehefteten merkwürdigen Zeichnung. Eduards schulische Leistungen wurden immer schlechter.

Seine Mutter verstand zwar kein Portugiesisch, sah jedoch die Bucheinbände: Kreuz, Feuer, aufgehängte Hexen, exotische Symbole.

»Unser Sohn liest gefährliche Sachen.«

»Gefährlich ist, was auf dem Balkan geschieht«, entgegnete der Botschafter. »Es gibt Gerüchte, daß die Provinz Slowenien die Unabhängigkeit will, und das kann uns in den Krieg führen.« Die Mutter maß jedoch der Politik nicht die geringste Bedeutung zu. Sie wollte wissen, was mit ihrem Sohn los war.

»Warum verbrennen die immer Räucherstäbchen?«

»Um den Marihuanageruch zu überdecken«, sagte der Botschafter. »Unser Sohn hat gute Schulen besucht, er wird nicht glauben, daß diese parfümierten Stäbchen Geister anziehen.«

»Mein Sohn nimmt Drogen!«

»Das kommt vor. Ich habe auch Marihuana geraucht, als ich jung war, und irgendwann hat man genug davon, so wie auch ich irgendwann genug hatte.«

Die Frau war beruhigt und stolz: Ihr Mann hatte Erfahrung, er war im Drogenmilieu gewesen und war unversehrt wieder herausgekommen. Ein Mann mit so viel Willenskraft meisterte jede Situation.

Eines schönen Tages hatte Eduard einen besonderen Wunsch: Er wollte ein Fahrrad haben.

»Wir haben einen Fahrer und einen Mercedes. Wozu brauchst du ein Fahrrad?«

»Um näher an der Natur zu sein. Maria und ich werden zehn Tage wegfahren«, sagte er. »Es gibt hier in der Nähe eine Stelle mit unglaublichen Kristallvorkommen, und Maria meint, sie würden gute Energie übertragen.«

Vater und Mutter waren im Kommunismus erzogen worden.

Kristalle waren nur Mineralien und gehorchten einer bestimmten Art der Anordnung von Atomen. Irgendeine wie auch immer geartete positive oder negative Energie strahlten sie nicht aus. Die Eltern hörten sich um und erfuhren, daß diese Ideen von »Kristallschwingungen« gerade in Mode kamen.

Wenn ihr Sohn bei einem ihrer offiziellen Empfänge dieses Thema anschnitt, könnten die anderen das lächerlich finden.

Zum ersten Mal wurde dem Botschafter klar, daß die Lage sich zuspitzte. Brasilia war eine Stadt, die vom Klatsch lebte, und bald würden alle wissen, daß Eduard irgendwelchem primitiven Aberglauben anhing, und die Botschafterkollegen könnten meinen, er habe dies von seinen Eltern. Und Diplomatie war schließlich nicht allein die Kunst des Hinhaltens, sondern auch der Wahrung von Normalität um jeden Preis.

»Mein Sohn, so kann das nicht weitergehen«, sagte der Vater. »Ich habe in Jugoslawien Freunde im Außenministerium.

Du hast eine brillante Diplomatenlaufbahn vor dir und mußt lernen, dich der Realität zu stellen.«

Eduard verließ das Haus und kam an dem Abend nicht wieder. Seine Eltern riefen bei Maria, in den Leichenhallen und Krankenhäusern an. Niemand wußte etwas. Die Mutter verlor das Vertrauen in die Qualitäten ihres Mannes als Familienoberhaupt. Sein hervorragendes Verhandlungsgeschick hatte hier offensichtlich nicht funktioniert. Am nächsten Tag tauchte Eduard hungrig und übernächtigt wieder auf. Er aß und ging auf sein Zimmer, steckte seine Räucherstäbchen an, betete seine Mantras, schlief den Rest des Nachmittags und die ganze Nacht. Als er aufwachte, wartete ein nagelneues Fahrrad auf ihn.

»Geh zu deinen Kristallen«, sagte die Mutter. »Ich werde das deinem Vater schon erklären.« Und so machte sich Eduard an diesem trockenen, staubigen Nachmittag zu Marias Wohnung auf. Die Stadt war so perfekt entworfen (fanden die Architekten) oder so mißlungen (fand Eduard), daß es fast keine Ecken gab. Er fuhr rechts auf einem Fahrstreifen für hohe Geschwindigkeiten, blickte in den Himmel voller Wolken, die keinen Regen brachten, als er bemerkte, daß er mit ungeheurer Geschwindigkeit in diesen Himmel hinaufraste, um gleich darauf wieder herunterzusausen und sich auf dem Asphalt wiederzufinden.

KRACH!

>Ich hatte einen Unfall.<

Er wollte sich umdrehen, weil sein Gesicht in den Asphalt gepreßt war, doch er merkte, daß er keine Kontrolle über seinen Körper hatte. Er hörte Bremsen quietschen, schreiende Menschen. Jemand kam und versuchte ihn zu berühren. Dann hörte er sofort den Ruf: »Den Verunglückten nicht anfassen! Wenn jemand ihn bewegt, kann er für den Rest seines Lebens zum Krüppel werden!«

Die Sekunden vergingen langsam, und Angst kroch in Eduard hoch. Im Gegensatz zu seinen Eltern glaubte er an Gott und an ein Leben nach dem Tod, trotzdem fand er es ungerecht, mit 17 Jahren in einem Land zu sterben, das nicht sein eigenes war, und dabei den Asphalt anzuschauen.