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»Geht es Ihnen gut?« hörte er eine Stimme fragen.

Nein, es ging ihm nicht gut, er konnte sich weder bewegen noch etwas sagen. Das schlimmste war, daß er das Bewußtsein nicht verlor, genau wußte, was passierte. Warum wurde er nicht ohnmächtig? Hatte denn Gott kein Erbarmen mit ihm, gerade in einem Augenblick, da er Ihn allen Widrigkeiten zum Trotz und mit ganzer Seele suchte? »Die Ärzte kommen jeden Augenblick«, flüsterte jemand und ergriff seine Hand. »Ich weiß nicht, ob Sie mich hören können, aber seien Sie ganz beruhigt. Es ist nichts Schlimmes.«

Ja, er konnte es hören, er hätte gern gewollt, daß dieser Mensch — es war ein Mann — weiterredete, ihm versicherte, daß es nichts Schlimmes war, obwohl er erwachsen genug war, um zu wissen, daß sie das immer sagten, wenn es besonders schlecht stand. Er dachte an Maria, an die Kristallberge voller positiver Energie — im Gegensatz zu Brasilia, das er in seinen Meditationen stets als die höchste Konzentration negativer Energie erfahren hatte.

Aus Sekunden wurden Minuten, Leute versuchten ihn zu trösten, und zum ersten Mal, seit er gestürzt war, spürte er Schmerzen. Einen heftigen Schmerz, der aus dem Zentrum seines Kopfes in seinen ganzen Körper ausstrahlte.

»Sie sind da«, sagte der Mann, der seine Hand hielt.

»Morgen fahren Sie wieder Rad.«

Doch am nächsten Tag lag Eduard im Krankenhaus. Beide Beine und ein Arm waren eingegipst, und er mußte einen ganzen Monat so liegenbleiben und zuhören, wie seine Mutter den ganzen Tag lang schluchzte, sein Vater aufgeregte Telefonate führte, während die Ärzte nicht müde wurden zu wiederholen, daß die entscheidenden 24 Stunden überstanden seien und keine Gehirnverletzung vorliege.

Die Eltern riefen bei der amerikanischen Botschaft an, die, weil sie kein Vertrauen in die staatlichen Krankenhäuser hatte, über einen eigenen High-Tech-Unfalldienst sowie eine Liste brasilianischer Ärzte verfügte, die amerikanische Diplomaten behandeln durften. Hin und wieder stellten die Amerikaner diese Dienste auch ihren Kollegen zur Verfügung.

Die Amerikaner brachten ihre Geräte, die auf dem allerneuesten Stand waren, machten zehnmal so viele Untersuchungen und neue Tests, die letztlich wie immer die Diagnosen und Therapien der staatlichen Krankenhausärzte bestätigten.

Die Ärzte des staatlichen Krankenhauses mochten gut sein, doch die brasilianischen Fernsehprogramme waren genauso schlecht wie anderswo auf der Welt, und Eduard langweilte sich. Maria kam immer seltener ins Krankenhaus — vielleicht hatte sie einen anderen Gefährten gefunden, der mit ihr zu den Kristallbergen fuhr.

Im Gegensatz zu seiner Freundin besuchten der Botschafter und seine Frau ihn täglich, doch sie weigerten sich, ihm seine portugiesischen Bücher mitzubringen, mit dem Argument, sie würden sowieso bald versetzt und er werde diese Sprache bald nicht mehr brauchen. Daher gab sich Eduard damit zufrieden, mit den anderen Kranken zu reden, mit den Krankenpflegern über Fußball zu debattieren und die eine oder andere Zeitschrift zu lesen, die ihm in die Hände fiel.

Bis ihm einer der Krankenpfleger ein Buch mitbrachte, das er geschenkt bekommen hatte, aber zu dick fand, um es zu lesen. Von diesem Augenblick an führte das Leben Eduard auf einen merkwürdigen Weg, der ihn am Ende nach Villete brachte, zur Abkehr von der Realität und vom Leben anderer junger Männer in seinem Alter. Das Buch handelte von Visionären, die die Welt erschütterten, von Leuten, die eine eigene Vorstellung vom irdischen Paradies besaßen und ihr Leben der Aufgabe gewidmet hatten, sie mit ändern zu teilen. Es handelte von Jesus Christus, doch auch von Darwin mit seiner Theorie, daß der Mensch vom Affen abstammt; von Freud, der versicherte, daß Träume wichtig seien; von Kolumbus, der das Geschmeide der Königin verpfändete, um einen neuen Kontinent zu suchen; von Marx mit seiner Vorstellung, daß alle die gleiche Chance verdienten.

Und da kamen Heilige vor wie Ignatius von Loyola, ein Baske, der mit allen Frauen geschlafen hatte, mit denen er hatte schlafen können, der in unzähligen Schlachten mehrere Feinde getötet hatte, bis er in Pamplona verwundet wurde und von seinem Krankenlager aus die Welt begriff; und Teresa von Avila, die den Weg Gottes unbedingt finden wollte und der dies erst gelang, als sie durch einen Korridor ging und unwillkürlich vor einem Bild stehenblieb.

Antonius, der das Leben, das er führte, satt hatte und zehn Jahre lang mit den Dämonen in der Wüste lebte und jede Art von Versuchung durchstand; Franz von Assisi, ein junger Mann wie er, der entschlossen war, mit den Vögeln zu reden und das Leben hinter sich zu lassen, das seine Eltern für ihn vorgesehen hatten.

Eduard begann noch am selben Nachmittag, dieses »dicke Buch« zu lesen, weil er nichts anderes hatte, um sich zu zerstreuen. Mitten in der Nacht kam eine Krankenschwester herein und fragte ihn, ob er Hilfe brauche, da nur noch in seinem Zimmer Licht brannte. Eduard schickte sie mit einer Handbewegung weg, ohne vom Buch aufzuschauen.

Männer und Frauen, die die Welt erschüttert hatten. Ganz gewöhnliche Männer und Frauen wie er, sein Vater oder seine Freundin, von der er wußte, daß er sie verlieren würde, Menschen mit den gleichen Zweifeln und Sorgen wie alle anderen in ihrem vorprogrammierten Alltag. Menschen, die kein besonderes Interesse an Religion, Gott, Ausweitung des Geistes oder einem neuen Bewußtsein hatten, bis sie eines Tages beschlossen, alles zu verändern. Das Buch war besonders interessant, weil es erzählte, daß es in jedem dieser Leben einen magischen Augenblick gegeben hatte, der die Menschen auf die Suche nach ihrer eigenen Version des Paradieses aufbrechen ließ.

Menschen, die kein leeres Leben führen wollten und die, um das zu erreichen, was sie wollten, gebettelt oder Könige hofiert, Gesetzeswerke zerrissen oder den Zorn der Mächtigen ihrer Zeit herausgefordert hatten; Menschen, die mit Gewalt oder Diplomatie jede Schwierigkeit überwunden, genutzt und nie aufgegeben hatten.

Am nächsten Tag gab Eduard dem Krankenpfleger, der ihm das Buch geschenkt hatte, seine Golduhr und bat ihn, er möge sie verkaufen und ihm vom Erlös alle Bücher zu diesem Thema besorgen. Es gab keine. Er versuchte, die Biographien einiger dieser Menschen zu lesen, doch die beschrieben den Mann oder die Frau stets als einen erwählten, erleuchteten und nicht als einen gewöhnlichen Menschen, der wie jeder andere darum kämpfen mußte, das zu sagen, was er dachte.

Eduard war so beeindruckt von dem Gelesenen, daß er ernsthaft erwog, ein Heiliger zu werden und den Unfall zu nutzen, um seinem Leben eine andere Richtung zu geben.

Allein, seine beiden Beine waren gebrochen, und er hatte im Krankenhaus keine Vision, kam nicht an einem Bild vorbei, das seine Seele erschütterte, hatte keine Freunde, um mit ihnen auf der brasilianischen Hochebene eine Kapelle zu bauen, und die Wüsten waren weit weg und voll politischer Probleme. Dennoch konnte er etwas tun: malen lernen und versuchen, der Welt die Visionen zu zeigen, die jene Menschen gehabt hatten.

Nachdem man ihm den Gips abgenommen hatte und er in die Botschaft zurückgekehrt war, wo er von anderen Diplomaten seinem Rang als Botschafterssohn entsprechend verwöhnt und umsorgt wurde, bat er seine Mutter, ihn in einen Malkurs einzuschreiben.

Sie meinte, daß er in der Amerikanischen Schule schon viel zuviel versäumt habe und sich jetzt daran machen müsse, die verlorene Zeit aufzuholen. Eduard weigerte sich.

Er hatte nicht die geringste Lust, Geographie und andere Naturwissenschaften zu lernen.

Er wollte Maler werden. In einem unbedachten Augenblick sagte er den Grund:

»Ich muß die Visionen des Paradieses malen.«

Die Mutter sagte nichts und versprach, mit ihren Freundinnen zu sprechen, um herauszufinden, welches der beste Malkurs der Stadt war.