»Veronika die Verrückte« oder »Veronika, die versuchte, sich umzubringen« vorgestellt werden. Zudem würden er wie auch seine Freundin Veronika nur kurz in dieser Geschichte auftauchen, an dieser Stelle nämlich.
Veronika, die Freundin, war entsetzt über das, was ihr Vater getan hatte, zumal er er als Direktor um den guten Ruf seiner Klinik bangen mußte und auch weil er demnächst seine Habilitationsarbeit Medizinprofessoren vorlegen wollte, die sie nach traditionellen Maßstäben beurteilen würden. »Weißt du, woher das Wort >Asyl< kommt, mit dem hier auch Irrenanstalten bezeichnet werden?« fragte sie. »Es geht auf das mittelalterliche Wort >asylum< und das damals bereits wirksame Recht der Menschen zurück, in Kirchen und geheiligten Orten Zuflucht zu finden. Das Recht auf Asyl ist doch etwas, was jeder zivilisierte Mensch versteht. Wie konnte mein Vater als Direktor eines Asyls so mit jemandem umgehen?«
Paulo Coelho wollte ganz genau wissen, was geschehen war. Es gab einen ganz persönlichen Grund für sein Interesse an Veronikas Geschichte, war er doch selbst dreimal in so einem Asyl oder so einer Anstalt gewesen — 1965, 1966 und 1967. Die Anstalt, in die er eingewiesen worden war, hieß Casa de Saude Dr. Eiras und lag in Rio de Janeiro.
Noch heute war ihm nicht ganz klar, weshalb er eingewiesen worden war. Vielleicht war seinen Eltern sein merkwürdiges, zwischen Schüchternheit und Extravertiertheit schwankendes Verhalten suspekt gewesen, zumal er den Wunsch äußerte, »Künstler« zu werden, was für sie zwangsläufig ein Schicksal als dahinvegetierender Außenseiter bedeutete.
Wenn er darüber nachdachte — was er übrigens selten tat — , dann war der eigentliche Verrückte für ihn der Arzt, der zugestimmt hatte, ihn ohne einen konkreten Grund in eine Anstalt einzuweisen. In jeder Familie schiebt man manchmal gern die Verantwortung auf andere ab und wäscht seine Hände in Unschuld, weil ja schließlich keiner die Tragweite dieser drastischen Maßnahme ermessen konnte. Paulo lachte, als er von Veronikas seltsamem Leserbrief an Homme erfuhr, in dem sie sich darüber beklagte, daß eine so bedeutende französische Zeitschrift nicht wußte, wo Slowenien lag.
»Aber deshalb bringt man sich doch nicht gleich um.«
»Darum hat der Brief auch nichts bewirkt«, sagte Veronika, die Freundin, bedrückt. »Noch gestern, als ich mich hier in meinem Pariser Hotel eingetragen habe, meinte der Portier, Slowenien sei eine Stadt in Deutschland.«
Davon konnte Paulo Coelho als Brasilianer ein Lied singen, denn wie oft hatte man ihn im Ausland nicht schon zur Schönheit von Buenos Aires beglückwünscht, das irrtümlich für die Hauptstadt Brasiliens gehalten wurde. Wie Veronika war er in ein Sanatorium für Geisteskranke gesteckt worden, aus dem er, wie seine erste Frau einmal anmerkte, »nie wieder hätte herauskommen sollen«.
Doch er war wieder herausgekommen. Und als er die Casa de Saude Dr. Eiras das dritte und, wie er sich schwor, letzte Mal verließ, hatte er sich innerlich zwei Versprechen gegeben: a) einmal über dieses Thema zu schreiben und b) sich nicht eher öffentlich darüber zu äußern, als bis seine Eltern gestorben waren; er wollte sie nicht verletzen, denn beide hatten sich jahrelang Vorwürfe deswegen gemacht.
Seine Mutter war 1993 gestorben. Doch sein Vater, der im Jahre 1997 84 Jahre alt geworden war, lebte noch und war bis auf ein Lungenemphysem (das er bekommen hatte, obschon er Nichtraucher war) kerngesund, auch wenn er sich von Tiefkühlkost ernährte, weil sich keine Angestellte fand, die seine Schrullen ertrug.
Veronikas Geschichte bot Paulo Coelho die Möglichkeit, über das Thema zu sprechen, ohne seinem Versprechen untreu zu werden. Anders als Veronika hatte er nie an Selbstmord gedacht, doch die Anstaltswelt mit ihren Behandlungsmethoden, dem Verhältnis Arzt-Patient, dem von ihr vermittelten zwiespältigen Gefühl von Geborgenheit einerseits und Beklemmung andererseits kannte er sehr genau.
Nehmen wir also Abstand von Paulo Coelho und Veronika, der Freundin, und fahren wir mit der Geschichte fort.
Veronika wußte nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Sie erinnerte sich daran, daß sie irgendwann mit Schläuchen in Mund und Nase aufgewacht war und eine Stimme hörte, die sie fragte
»Möchten Sie, daß ich Sie masturbiere?«
Doch jetzt, da sie sich mit weit offenen Augen im Zimmer umsah, wußte sie nicht, ob das wirklich geschehen oder eine Halluzination gewesen war. Doch an etwas anderes konnte sie sich nicht erinnern.
Die Schläuche waren herausgenommen worden. Doch sie hatte noch immer Kanülen überall im Körper, Elektroden an Herz und Kopf, und ihre Arme waren festgebunden. Unter dem Laken war sie völlig nackt. Sie fror. Doch sie wollte sich nicht beklagen. Der Bereich, in dem ihr Bett und die Geräte für die medizinische Intensivbehandlung standen, war von grünen Vorhängen umgeben. Und neben ihrem Bett saß eine Krankenschwester auf einem weißen Stuhl und las in einem Buch.
Die Frau hatte dunkle Augen und braunes Haar. Dennoch war Veronika sich nicht ganz sicher, ob es dieselbe Person war, mit der sie vor ein paar Stunden — Tagen? — gesprochen hatte.
»Könnten Sie meine Arme losbinden?«
Die Krankenschwester hob den Blick, antwortete mit einem trockenen »nein« und vertiefte sich wieder in ihr Buch.
Ich lebe, dachte Veronika. Nun fängt alles wieder von vorn an. Eine Zeitlang behalten sie mich noch hier, bis sie feststellen, daß ich vollkommen normal bin. Dann entlassen sie mich, und ich werde die Straßen von Ljubljana wiedersehen, den runden Hauptplatz, die Brücken, die Leute auf dem Weg zu oder von der Arbeit.
Da die Menschen dazu neigen, anderen zu helfen — nur damit sie sich besser fühlen, als sie tatsächlich sind -, werden sie mir meine Stelle in der Bibliothek wiedergeben. Mit der Zeit werde ich dieselben Bars und Nachtclubs wie früher besuchen, mit meinen Freunden über Ungerechtigkeit und Probleme der Welt reden, ins Kino gehen, Spaziergänge um den See machen.
Da ich Tabletten genommen habe, bin ich nicht entstellt: Ich bin weiterhin jung, hübsch, intelligent, und ich werde weiterhin keine Schwierigkeiten haben, Männer kennenzulernen.
Ich werde mit ihnen schlafen, entweder in ihren Wohnungen oder im Wald, es bis zu einem gewissen Grad genießen, doch gleich nach dem Orgasmus wird die Leere wieder da sein. Wir werden uns nicht viel zu sagen haben und es beide wissen. Irgendwann kommt dann der Moment der ersten Ausflüchte im Stil von >Es ist schon spät< oder
>Morgen muß ich früh aufstehen<. Und dann trennt man sich am besten so schnell wie möglich und schaut sich dabei tunlichst nicht in die Augen.
Ich kehre in das Zimmer zurück, das ich im Kloster gemietet habe. Versuche ein Buch zu lesen, schalte den Fernseher ein, um die ewig gleichen Programme zu sehen, stelle den Wecker, um zu genau derselben Zeit aufzuwachen wie am Tag zuvor, erledige mechanisch alle Aufgaben, mit denen man mich in der Bibliothek betraut. Esse ein Sandwich in der Grünanlage vor dem Theater, sitze auf derselben Bank wie immer zusammen mit anderen Leuten, die auch immer dieselben Bänke aufsuchen, um ihren Imbiß zu essen, den gleichen leeren Blick haben, aber vorgeben, mit unglaublich wichtigen Dingen beschäftigt zu sein.
Dann kehre ich zur Arbeit zurück, höre mir den Klatsch darüber an, wer gerade mit wem geht, wer gerade erkrankt ist und woran und wer sich wegen eines Ehepartners die Augen ausweint, und habe das Gefühl, privilegiert zu sein.
Ich bin hübsch, habe eine Stellung, kann den Mann bekommen, den ich will. Und am Abend gehe ich wieder in die Bars, und alles fängt von vorn an.