Anfangs überlegte Veronika, ob sie überhaupt antworten sollte, denn ihr Gedächtnis war noch ziemlich durcheinander.
Doch im Laufe der Befragung rekonstruierte sie, was sie vergessen hatte. Irgendwann ging ihr auf, daß sie sich jetzt in einer psychiatrischen Anstalt befand und Verrückte eigentlich nicht zusammenhängend reden mußten. Doch zu ihrem eigenen Besten und um die Ärzte in der Nähe zu halten, damit sie etwas über ihren Zustand erfahren konnte, begann sie ihren Verstand anzustrengen. Und indem sie Namen und Tatsachen zitierte, erlangte sie nicht nur ihr Erinnerungsvermögen nach und nach zurück, sondern auch ihre Identität, ihre Absichten und ihre Gedankenwelt. Ihr Selbstmord, der noch am Morgen unter mehreren Schichten von Beruhigungsmitteln verschüttet gewesen war, kam wieder an die Oberfläche.
»Gut«, sagte der Arzt am Ende der Befragung.
»Wie lange muß ich noch hierbleiben?«
Der Assistent schaute zu Boden, und sie spürte, wie alles stillstand, als beginne mit der Antwort auf diese Frage ein neues, unabänderliches Kapitel ihrer Lebensgeschichte.
»Du kannst es ihr sagen«, meinte der Arzt. »Viele andere Patienten haben schon Gerüchte gehört, und sie wird es am Ende sowieso erfahren. Hier gibt es keine Geheimnisse.«
»Nun, Sie haben Ihr Schicksal selbst bestimmt«, seufzte der junge Mann und maß seine Worte. »Und jetzt müssen Sie auch die Konsequenzen tragen: Während des durch die Betäubungsmittel hervorgerufenen Komas wurde ihr Herz unwiderruflich geschädigt. Es hat eine Nekrose an der Herzklappe -«
»Machen Sie nicht viel Worte!« sagte der Arzt. »Kommen Sie gleich zum Wesentlichen!«
»Ihr Herz wurde unwiderruflich geschädigt. Und wird bald aufhören zu schlagen.«
»Was bedeutet das?« fragte sie erschrocken.
»Die Tatsache, daß das Herz zu schlagen aufhört, bedeutet nur eines: den physischen Tod. Ich weiß nicht, was Ihre Religion ist, aber -«
»Und wie lange dauert es, bis mein Herz stillsteht?«
»Fünf Tage, höchstens eine Woche.« Veronika merkte, daß der junge Mann, der sich so professionell und besorgt gab, sich insgeheim diebisch freute, ihr diesen Befund zu sagen — als verdiente sie die Strafe und müßte künftig ändern als warnendes Beispiel dienen.
Im Laufe ihres Lebens hatte Veronika begriffen, daß es unendlich viele Leute gab, die von den Schicksalsschlägen ihrer Mitmenschen in einem Ton sprachen, als ginge es ihnen darum, zu helfen. Aber in Wahrheit weideten sie sich am Leid der anderen, weil es sie glauben machte, sie selbst seien glücklich und das Leben habe es gut mit ihnen gemeint.
Veronika konnte diese Sorte Menschen nicht ausstehen.
Der junge Mann sollte keine Gelegenheit bekommen, auf ihre Kosten seine eigenen Frustrationen zu verdrängen.
Sie schaute ihn direkt an und lächelte.
»Dann habe ich also nicht versagt.«
»Nein«, war die Antwort. Doch seine Freude am Überbringen von Hiobsbotschaften war verflogen.
In der Nacht bekam sie jedoch Angst. Ein schneller Tablettentod war eines, etwas anderes war es, fünf Tage, eine Woche lang auf den Tod zu warten, nachdem man schon alles gelebt hatte, was möglich war.
Sie hatte ihr Leben damit verbracht, ständig auf etwas zu warten: Darauf, daß der Vater von der Arbeit kam, auf den Brief des Liebsten, der immer nicht kam, auf die Prüfungen am Jahresende, auf die Bahn, auf den Bus, auf einen Anruf, auf den ersten Ferientag, auf den letzten Ferientag. Jetzt mußte sie auf den Tod warten, für dessen Kommen der Termin schon abgemacht war.
>Das konnte nur mir passieren. Normalerweise sterben die Leute genau dann, wenn sie es nicht erwarten.< Sie mußte hier raus, sich neue Tabletten besorgen. Sollte ihr das nicht gelingen und die einzige Lösung sein, sich in Ljubljana von einem Gebäude zu stürzen, dann würde sie es tun. Sie hatte versucht, ihren Eltern zusätzliches Leid zu ersparen, doch jetzt gab es keinen anderen Ausweg.
Sie blickte um sich. Alle Betten waren belegt. Die Leute schliefen, einige schnarchten heftig. Die Fenster waren vergittert.
Ganz vorn im Schlafsaal brannte ein kleines Licht, das merkwürdige Schatten warf und dafür sorgte, daß die Patienten ständig überwacht werden konnten. Beim Licht saß eine Frau und las in einem Buch.
>Diese Krankenschwestern müssen sehr gebildet sein. Die lesen ununterbrochen.< Veronika lag am weitesten von der Tür entfernt. Zwischen ihr und der Frau standen an die zwanzig Betten.
Mühsam stieg sie aus dem Bett, weil sie dem Arzt zufolge fast drei Wochen durchgehend im Bett gelegen hatte. Die Krankenschwester hob den Blick und sah das Mädchen mit ihrem Infusionsständer auf sich zukommen.
»Ich möchte ins Bad«, flüsterte sie, weil sie fürchtete, die anderen verrückten Frauen zu wecken.
Die Frau wies mit einer nachlässigen Geste auf die Tür.
Veronikas Verstand arbeitete fieberhaft, suchte überall nach einem Ausweg, einer wie auch immer gearteten Lücke, die ihr ermöglichte, diesen Ort zu verlassen. >Es muß schnell gehen, solange sie noch glauben, ich sei schwach, unfähig zu reagieren.<
Sorgfältig prüfte sie die Umgebung. Das Bad war ein türloser Kubus. Wenn sie hier rauskommen wollte, müßte sie die Wärterin packen und überwältigen, um an den Schlüssel heranzukommen. Doch dazu war sie zu schwach.
»Ist das hier ein Gefängnis?« fragte sie die Krankenschwester, die ihr Buch hingelegt hatte und sie jetzt in den Saal zurückbegleitete.
»Nein, eine psychiatrische Anstalt.«
»Ich bin nicht verrückt.«
Die Frau lachte.
»Das sagen hier alle.«
»Also gut. Dann bin ich eben verrückt. Könnten Sie mir vielleicht sagen, was es heißt, verrückt zu sein?«
Die Frau sagte, Veronika dürfe nicht zu lange auf sein, und wollte sie ins Bett zurückstecken. Doch Veronika ließ sich nicht abwimmeln und fragte erneut:
»Könnten Sie mir vielleicht sagen, was es heißt, verrückt zu sein?«
»Fragen Sie das morgen den Arzt. Und jetzt schlafen Sie, sonst muß ich Ihnen, so leid es mir tut, ein Beruhigungsmittel geben.«
Veronika gehorchte. Auf dem Weg zurück ins Bett hörte sie jemanden in einem der anderen Betten flüstern:
»Weißt du nicht, was ein Verrückter ist?«
Zuerst blieb Veronika die Antwort schuldig. Freundschaften schließen, soziale Bindungen schaffen, Gleichgesinnte für einen Massenaufstand finden — daran lag ihr nichts. Wenn eine Flucht unmöglich war, dann würde sie es irgendwie schaffen, sich so schnell wie möglich an Ort und Stelle umzubringen.
Doch die Frau wiederholte die Frage, die Veronika der Wärterin gestellt hatte.
»Weißt du nicht, was ein Verrückter ist?«
»Wer bist du?«
»Ich heiße Zedka. Geh zu deinem Bett. Wenn die Wärterin glaubt, daß du in deinem Bett liegst, dann kriech hierher zu mir.«
Veronika kehrte in ihr Bett zurück, wartete, bis die Wärterin sich wieder in ihr Buch vertieft hatte. Was hieß hier
>verrückt<? Dieses Wort wurde in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, mit ganz verschiedenen Bedeutungen gebraucht. So sagten zum Beispiel bestimmte Sportler, daß sie ganz verrückt darauf seien, Rekorde zu brechen. Oder man behauptete, Künstler seien verrückt, weil sie ein unsicheres,
>anderes< Leben führten als die >Normalen<. Andererseits hatte Veronika in den Straßen Ljublanas schon häufig im Winter dürftig gekleidete Menschen gesehen, die das Ende der Welt predigten und Einkaufswagen voller Tüten und Lumpen vor sich her schoben.
Sie war jetzt hellwach. Dem Arzt zufolge hatte sie eine Woche lang geschlafen, zu viel für jemanden, der ein Leben ohne große Emotionen, aber mit festen Ruhezeiten gewohnt war. Was hieß hier >verrückt<?