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»Ich hoffe, die Spritze hat dir nicht allzusehr zu schaffen gemacht. Mit der Zeit gewöhnt sich der Körper daran, und die Beruhigungsmittel wirken nicht mehr so stark.«

»Mir geht es gut.«

»Unsere Unterhaltung gestern nacht... Das, worum du mich gebeten hast, erinnerst du dich?«

»Ja, genau.«

Zedka nahm sie am Arm, und die beiden gingen gemeinsam zwischen den vielen kahlen Bäumen im Hof spazieren.

Hinter den Mauern konnte man die Berge sehen, deren Gipfel in den Wolken verschwanden. »Es ist kalt, doch es ist ein schöner Morgen«, sagte Zedka. »Merkwürdig, aber meine Depression ist nie an Tagen wie diesem gekommen, wenn der Himmel bewölkt und es grau und kalt war. Ich hatte dann immer das Gefühl, mit der Natur im Einklang zu sein, daß sie meine Seele widerspiegelte.

Wenn aber die Sonne herauskam, die Kinder wieder auf der Straße spielten und alle sich über den schönen Tag freuten, fühlte ich mich hundeelend und kam mir inmitten dieses Überschwangs fehl am Platz und ungerecht behandelt vor.«

Vorsichtig entzog sich Veronika dem Arm der Frau. Ihr war körperlicher Kontakt zuwider.

»Du hast den Satz nicht beendet. Du hattest etwas über meine Bitte gesagt.«

»Hier drinnen gibt es eine Gruppe. Es sind Männer und Frauen, die eigentlich schon herauskommen, zu Hause leben könnten, aber nicht gehen wollen. Gründe dafür gibt es viele: Villete ist lange nicht so schlecht wie sein Ruf, auch wenn es beileibe kein Fünfsternehotel ist. Hier drinnen können alle sagen, was sie denken, tun, was sie wollen, ohne auf Kritik zu stoßen. Schließlich sind sie in einer psychiatrischen Anstalt.

Bei staatlichen Kontrollen benehmen sich diese Männer und Frauen wie gefährliche Irre, denn viele sind auf Staatskosten hier. Die Ärzte wissen Bescheid, doch es scheint eine Weisung seitens der Besitzer zu geben, alles beim alten zu belassen, da die Klinik nicht einmal zur Hälfte belegt ist.«

»Könnten die mir die Tabletten besorgen?«

»Versuch Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Sie nennen ihre Gruppe >Die Bruderschaft<.«

Zedka zeigte auf eine weißhaarige Frau, die sich angeregt mit einigen jüngeren Frauen unterhielt.

»Sie heißt Mari, sie gehört zur Bruderschaft. Frag sie!«

Veronika wollte schon auf Mari zugehen, doch Zedka hielt sie zurück.

»Jetzt nicht: Sie amüsiert sich doch gerade. Sie läßt sich nicht von ihrem Vergnügen abhalten, nur um nett zu einer Wildfremden zu sein. Wenn sie erst einmal ablehnend reagiert hat, wirst du das nie mehr gutmachen können. Die

>Verrückten< glauben immer ihrem ersten Eindruck.«

Veronika lachte über die Betonung, mit der Zedka >die Verrückten< aussprach. Doch es beunruhigte sie, daß alles so normal, viel zu schön wirkte. Nach so vielen Jahren, in denen sie von der Arbeit direkt in die Bar gegangen war, von der Bar in das Bett eines Mannes, vom Bett in ihr Zimmer, von ihrem Zimmer zu ihrer Mutter, erlebte sie jetzt etwas, das sie sich nie hatte träumen lassen: die psychiatrische Anstalt, die Verrücktheit, das Eingeschlossensein. Hier schämten sich die Menschen nicht zu sagen, daß sie verrückt seien. Hier unterbrach niemand, was ihm gerade Spaß machte, nur um nett zu einem anderen zu sein.

Sie begann zu bezweifeln, ob Zedka es ernst gemeint oder ob sie nur nach Art der Geisteskranken vorgegeben hatte, in einer besseren Welt zu leben als die anderen. Doch was spielte das schon für eine Rolle? Sie erlebte etwas Interessantes, Neues, Unerwartetes. Man stelle sich das vor, ein Ort, an dem die Leute so tun, als seien sie verrückt, nur um genau das zu tun, wozu sie Lust haben.

Plötzlich spürte sie ein Herzstechen. Ihr fiel sofort die Unterhaltung mit dem Arzt wieder ein. »Ich möchte gern allein weitergehen«, sagte sie zu Zedka.

Letztlich war sie auch eine Verrückte, sie mußte zu niemandem nett sein.

Die Frau entfernte sich. Veronika blieb zurück und betrachtete die Berge jenseits der Mauern von Villete. Eine leise Sehnsucht weiterzuleben glomm in ihr auf, doch sie verscheuchte sie entschieden.

>Ich muß mir schnell die Tabletten beschaffen.< Sie dachte über ihre Situation nach. Sie war keinesfalls ideal. Selbst wenn man ihr Gelegenheit gab, alle Verrücktheiten auszuleben, zu denen sie Lust hatte, wußte sie nicht einmal, womit sie beginnen sollte.

Sie war noch nie nach etwas verrückt gewesen.

Nach dem Spaziergang im Garten kehrten alle in den Speisesaal zurück und aßen zu Mittag. Anschließend führten die Krankenpfleger Männer und Frauen in einen riesigen Aufenthaltsraum, in dem es viele verschiedene Bereiche gab: mehrere Sitzgruppen mit Stühlen, Tischen und Sofas, ein Klavier, einen Fernseher und große Fenster, durch die man den grauen Himmel und die niedrigen Wolken sehen konnte. Keines der Fenster war vergittert, denn der Saal ging zum Garten hinaus. Wegen der Kälte waren die Türen geschlossen, doch man brauchte nur den Türknauf zu drehen, um wieder hinauszutreten und zwischen den Bäumen spazierenzugehen.

Die meisten setzten sich vor den Fernseher. Einige starrten ins Leere, andere führten leise Selbstgespräche. Doch wer hatte das in seinem Leben nicht schon mal getan? Veronika sah, daß die ältere Frau, Mari, jetzt mit einer größeren Gruppe in einer der Ecken des riesigen Saals zusammenstand.

Einige der Insassen gingen in der Nähe auf und ab, und Veronika pirschte sich unauffällig an sie heran, weil sie mitbekommen wollte, was gesprochen wurde.

Doch als sie näher kam, verfielen alle in Schweigen und sahen sie an.

»Was willst du?« fragte ein alter Mann, der der Leiter der Bruderschaft zu sein schien.

»Nichts, ich kam nur gerade vorbei.«

Sie blickten sich alle gegenseitig an und machten wilde Kopfbewegungen. »Sie ist nur vorbeigekommen!« sagte der Leiter lauter, und kurz darauf schrien alle den Satz.

Veronika wußte nicht, was sie machen sollte, war wie gelähmt vor Angst. Ein grimmiger starker Krankenpfleger kam und wollte wissen, was los sei.

»Nichts«, antwortete einer aus der Gruppe. »Sie kam nur gerade vorbei. Sie steht da, aber sie geht immer noch gerade vorbei.«

Die ganze Gruppe fing lauthals an zu lachen. Veronika setzte ein ironisches Gesicht auf, machte lächelnd kehrt und entfernte sich, damit niemand sah, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie ging, ohne etwas überzuziehen, geradewegs in den Garten. Ein Krankenpfleger wollte sie überreden, wieder hereinzukommen, dann kam ein anderer hinzu, der ihm etwas ins Ohr flüsterte, und die beiden ließen sie draußen in der Kälte in Ruhe. Es lohnte sich nicht, sich Sorgen um die Gesundheit einer zum Tode Verdammten zu machen.

Sie war verwirrt, angespannt und ärgerte sich über sich selber. Früher hatte sie sich nie provozieren lassen. Hatte von früh auf gelernt, daß man in jeder neuen Situation immer kühl und unbeteiligt bleiben mußte. Diese Verrückten hatten es jedoch geschafft, daß sie sich schämte, Angst hatte, wütend war, sie am liebsten umgebracht, mit Worten verletzt hätte, die sie früher niemals zu sagen wagte.

Vielleicht hatten sie ja die Tabletten oder die Behandlung, um sie aus dem Koma zu holen, in eine zerbrechliche Frau verwandelt, die unfähig war, aus sich heraus zu reagieren.

Als Teenager hatte sie viel schlimmere Situationen durchgemacht, und jetzt konnte sie zum ersten Mal ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie mußte wieder die alte werden, wieder mit Ironie reagieren, so tun, als könnten ihr solche Beleidigungen nichts anhaben, denn schließlich war sie doch allen überlegen. Wer aus dieser Gruppe hatte den Mut gehabt, sich den eigenen Tod zu wünschen? Wer von ihnen wollte ihr etwas über das Leben beibringen, wo sie sich doch alle hinter den Mauern von Villete verkrochen? Sie würde niemals von deren Hilfe abhängig sein, auch wenn sie fünf oder sechs Tage warten müßte, bis sie starb.