>Ein Tag ist schon um. Es bleiben nur noch vier oder fünf.<
Sie spazierte etwas umher und ließ die Eiseskälte in ihren Körper dringen, damit ihr beschleunigter Puls und ihr pochendes Herz sich beruhigten.
>Also gut, hier bin ich nun, meine Stunden sind im wahrsten Sinne des Wortes gezählt, und kümmere mich um Kommentare von Leuten, die ich nie zuvor gesehen habe und in Kürze auch nie wieder sehen werde. Ich leide, werde ärgerlich, will angreifen und verteidigen. Wozu für so etwas Zeit verschwenden?<
Tatsache war jedoch, daß sie die wenige Zeit, die ihr noch blieb, damit verbrachte, in einer fremden Umgebung ihren Platz zu erobern, weil sonst die anderen ihr ihre Regeln aufzwangen.
>Das darf doch nicht wahr sein. Ich war noch nie so. Ich habe nie um Kinderkram gekämpft.<
Sie blieb mitten im eisigen Garten stehen. Gerade weil sie fand, daß das Kinderkram war, hatte sie am Ende akzeptiert, was ihr das Leben ganz selbstverständlich aufgezwungen hatte. Als Teenager fand sie es zu früh, eine Wahl zu treffen.
Jetzt, als junge Frau, war sie davon überzeugt, fand sie es zu spät, sich zu ändern.
Und womit hatte sie ihre ganze Energie bis heute verbraucht?
Damit, daß sie versuchte, in ihrem Leben keine Änderungen zuzulassen. Sie hatte viele ihrer Wünsche geopfert, damit ihre Eltern sie weiterhin so liebten, wie sie sie als Kind geliebt hatten, obwohl sie wußte, daß wahre Liebe sich mit der Zeit verändert und wächst und neue Möglichkeiten findet, sich auszudrücken. Eines Tages, als ihr ihre Mutter weinend sagte, daß die Ehe zu Ende sei, war Veronika zum Vater gegangen, hatte geweint, gedroht und ihm schließlich das Versprechen abgetrotzt, daß er nicht weggehen würde, ohne zu bedenken, was sie ihren Eltern damit abforderte.
Als sie beschloß, eine Arbeit zu finden, hatte sie ein vielversprechendes Angebot einer frisch in dem neuen Staat Slowenien niedergelassenen Gesellschaft aus geschlagen, um einen schlecht bezahlten, aber sicheren Arbeitsplatz in der öffentlichen Bibliothek anzunehmen. Sie ging jeden Tag zur Arbeit, immer zur gleichen Zeit, ließ ihre Vorgesetzten immer spüren, daß sie keine Bedrohung, daß sie zufrieden war und nicht vorhatte zu kämpfen, um zu wachsen. Alles, was sie wollte, war ihr Gehalt am Monatsende.
Sie hatte ein Zimmer im Kloster gemietet, weil die Nonnen von ihren Mieterinnen verlangten, daß sie alle zu einer bestimmten Zeit nach Hause kamen, und dann die Tür zuschlössen.
Wer nicht rechtzeitig kam, mußte draußen bleiben und auf der Straße übernachten — ein willkommener Vorwand, wenn sie die Nacht nicht im Bett ihres Liebhabers oder im Hotel verbringen wollte.
In ihren Tagträumen vom Heiraten kam immer eine kleine Villa am Stadtrand von Ljubljana vor. Ein Mann, der anders war als ihr Vater und der gerade so viel verdiente, wie notwendig war, um die Familie zu ernähren, der nichts anderes wollte als neben ihr vorm Kamin in dem Häuschen zu sitzen und auf die schneebedeckten Berge zu blicken.
Sie hatte sich selbst dazu erzogen, den Männern nur gerade ein Minimum an Lust zu verschaffen — kein bißchen mehr und kein bißchen weniger. Sie war auf niemanden wütend, denn dazu hätte sie reagieren, Feind oder Feindin bekämpfen und anschließend die unvorhersehbaren Konsequenzen wie etwa die Rache ertragen müssen.
Als sie fast alles erreicht hatte, was sie vom Leben wollte, war sie zum Schluß gekommen, daß ihr Leben keinen Sinn hatte, weil alle Tage gleich waren. Und hatte beschlossen zu sterben.
Veronika ging wieder ins Haus und auf die in einer Ecke des Saals versammelte Gruppe zu. Die Leute unterhielten sich 52
angeregt, schwiegen jedoch, sobald sie bei ihnen angekommen war.
Sie ging geradewegs auf den ältesten Mann zu, der der Chef zu sein schien. Bevor jemand sie zurückhalten konnte, hatte sie ihm eine schallende Ohrfeige verpaßt.
»Wirst du wohl reagieren?« fragte sie laut, damit alle im Saal es hörten. »Wirst du was tun?«
»Nein.« Der Mann fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
Ein feines Rinnsal Blut lief ihm aus der Nase. »Du wirst uns nicht mehr lange stören.«
Triumphierend verließ sie den Aufenthaltsraum und ging auf ihre Station. Sie hatte etwas getan, was sie in ihrem Leben noch nie gemacht hatte.
Drei Tage waren seit dem Zwischenfall mit der Gruppe vergangen, die Zedka >Die Bruderschaft< nannte. Ihr tat die Ohrfeige leid, nicht aus Angst vor der Reaktion des Mannes, sondern, weil sie etwas Neues getan hatte. Kurz, am Ende könnte sie womöglich noch dazu kommen, das Leben lebenswert zu finden. Und das wäre ein überflüssiges Leid, wo sie doch so oder so bald diese Welt verlassen mußte.
Die einzige Lösung war, sich wieder von allem und allen zu entfernen, alles daran zu setzen, wieder so zu sein wie vorher, die Weisungen und Regelungen von Villete zu befolgen.
Sie gewöhnte sich an die Anstaltsordnung: früh aufstehen, Frühstück, Spaziergang im Garten, Mittagessen, Aufenthaltsraum, zweiter Spaziergang im Garten, Abendessen, Fernsehen, Bett.
Vor dem Schlafen kam immer eine Krankenschwester mit den Medikamenten. Alle anderen Frauen nahmen Tabletten. Sie war die einzige, die eine Spritze bekam. Veronika beschwerte sich nie: Sie wollte nur wissen, warum man ihr so viel Beruhigungsmittel gab, denn mit dem Einschlafen hatte sie nie Schwierigkeiten gehabt. Sie erklärten ihr, daß in der Spritze kein Schlafmittel war, sondern ein Herzmittel.
Und so verliefen die Tage in der Anstalt gleichförmig.
Wenn sie alle gleich sind, vergehen sie schneller. Noch zwei oder drei Tage, und sie könnte sich das Zähneputzen und Haarekämmen sparen. Veronika merkte, daß ihr Herz schnell schwächer wurde: Sie war schnell kurzatmig, fühlte Schmerzen in der Brust, hatte keinen Appetit, und bei der kleinsten Anstrengung wurde ihr schwindlig.
Nach dem Zwischenfall mit der Bruderschaft dachte sie manchmal schon: >Hätte ich die Wahl, hätte ich vorher begriffen, daß meine Tage alle gleich waren, weil ich es so wollte, vielleicht...<
Aber die Antwort lautete immer gleich: >Es gibt kein Vielleicht, denn ich habe keine Wahl.< Und ihre innere Ruhe kehrte zurück, denn es war ja alles schon festgelegt.
In dieser Zeit entwickelte sie eine Beziehung zu Zedka (keine Freundschaft, denn Freundschaft verlangte Zeit mitund füreinander, und das ging nicht). Sie spielten Karten.
Das ließ die Zeit schneller vergehen. Und manchmal gingen sie schweigend zusammen durch den Garten.
An jenem Morgen gingen alle vorschriftsgemäß an die Sonne. Ein Krankenpfleger bat Zedka, zurück auf die Station zu gehen, denn heute sei ihr »Behandlungstag«.
Veronika, die gerade mit ihr frühstückte, fragte:
»Was ist das für eine Behandlung?« »Das ist ein altes Verfahren aus den sechziger Jahren, doch die Ärzte meinen, es könnte die Genesung beschleunigen.
Willst du zuschauen?«
»Du hast gesagt, du leidest unter Depressionen. Reicht es da nicht, ein Mittel zu nehmen, das dem Körper die Substanz zuführt, die ihm fehlt?«
»Willst du zuschauen?« beharrte Zedka.
Das würde heißen, aus der Routine auszubrechen. Sie würde etwas Neues erfahren, wo sie doch nichts weiter zu lernen brauchte — nur Geduld haben. Doch ihre Neugier war stärker, und sie nickte.
»Das ist keine Show«, schimpfte der Krankenpfleger.
»Sie wird sterben. Und hat nichts erlebt. Laß sie mit uns kommen.«
Veronika sah, wie die Frau ans Bett gefesselt wurde und dennoch weiterlächelte.
»Erzähl ihr, was passiert«, sagte Zedka zum Krankenpfleger.
»Sonst bekommt sie noch einen Schreck.«
Er wandte sich um und zeigte ihr eine Spritze. Er schien glücklich darüber zu sein, wie ein Arzt behandelt zu werden, der einem jüngeren Kollegen die genauen Behandlungsmethoden erklärt.
»In der Spritze ist Insulin«, sagte er ernst und bedeutungsvoll.
»Diese Behandlung wird bei Diabetikern angewandt, um einen zu hohen Zuckerspiegel zu senken. Wenn die Dosis zu hoch ist, sinkt der Blutzuckerspiegel zu stark, und es kommt zu einem Koma.« Er schnippte leicht an die Nadel, drückte die Luft aus der Spritze und injizierte sie in die Ader von Zedkas großem linkem Zeh.