Gewiß, der Raumgleiter konnte auch senkrecht wie eine Rakete landen. Aber warum vertikal aufsetzen, wenn der leere, breite Strand dazu einlud, wie ein Flugzeug zu Boden zu schweben?
Ein Schleier aus Sand stiebte hinter ihnen hoch und wirbelte über die Dünen, als die Räder den Boden berührten. Sie zogen eine tiefe Spur und pflügten zuletzt durch den Sand. Die Landung verlief normal. Ein letztes, leichtes Wippen des Rumpfes, und der Gleiter stand still.
Die beiden Raumfahrer schälten sich aus ihren Gurten, blinzelten einander ermunternd zu und öffneten den Ausstieg, um hinauszuspähen. Zuerst fielen ihnen uralte, flache Steindämme auf, glitschig überzogen und Muschelbewachsen, die wie kurze, dicke Dämme in die See vorstießen. Diese Buhnen waren offensichtlich aus Steinen von der Felsküste der anderen Inselseite zusammengesetzt, schon vor langer Zeit herbeitransportiert.
„Hast du das erwartet?“ fragte Leo, als er schon auf dem Deltaflügel stand und sich anschickte, herabzuklettem. Die Frage schloß die Verneinung durch Jill bereits ein. Diese zielgerichtete Tätigkeit deutete auf Inselbewohner hin, die sicherlich von schlichter Kultur, aber immerhin doch vernunftbegabt waren. Die beiden Männer hielten nach Fußspuren, nach Booten auf dem Meer, nach Rauch von Herdfeuern in Waldsiedlungen oder anderen Anzeichen der Anwesenheit von Einheimischen Ausschau. Sie entdeckten nichts dergleichen. Eine leichte Brise strich von See her über ihre Skaphan- der. Außer den Wellen und dem Schwanken von Baumkronen hinter den Dünen rührte sich ringsum nichts. Nicht einmal Schreie von Vögeln oder anderen Tieren waren zu hören. Doch dieses Bild tiefen Morgenfriedens konnte täuschen, denn die Landung des Raumgleiters war für die heimische Tierwelt sicherlich ein ungeheuerliches Ereignis, vor dem sie geflohen waren, das sie vor Schreck erstarren ließ. Am weit entfernten Bogen der Bucht stand etwas am Wassersaum, was eingerammte Pfähle oder schlanke Steinpyramiden sein konnten.
Im Wasser zwischen den Buhnen lagerten Massen von Gewächsen, die sie gewohnheitsmäßig als Tang bezeichneten, auch wenn sie ein Fachmann vielleicht nicht so klassifizieren würde. Die Pflanzen dämpften die Brandung.
„Bei so viel Tang müßte der Strand davon voll sein. Er ist es aber nicht. Seltsam, nicht wahr?“ sagte Leo. „Unsere Leute vom Modul haben damit bestimmt nichts zu tun. Hier räumen andere auf!“ Er begann, wieder in den Einstieg hineinzuklettern, weil er sich von fremden Augen beobachtet fühlte.
Aber Jill hielt ihn fest. „Hiergeblieben“, sagte er. „Wir gehen um das Kap zum Modul und sehen nach, was aus seiner Mannschaft geworden ist.“
„Also gut: immer den Strand entlang“, stimmte Leo ihm zu und schwang, sich vom Deltaflügel zu Boden. Eine solche Route einzuschlagen schien ihm vernünftig zu sein. Der Weg durch den Wald hingegen barg unbekannte Gefahren, auch wenn er kürzer war.
Die Grellheit der bläulich strahlenden Sonne und der helle Strand hatte sie veranlaßt, die Helmvisiere abzudunkeln. Aus Sicherheitsgründen, hauptsächlich als Schutz gegen Krankheitskeime, blieben die Helme geschlossen. Das engte das Blickfeld ein. Deshalb bemerkten die beiden erst spät in der Radspur des Raumgleiters eigenartig matschige Abschnitte. Der Boden war dort überall schieferartig zersplittert, als ob der Sand zu dünnen Schichten zusammengebacken wäre. Sie gingen ein Stück zurück, um nachzusehen, was für eine Erscheinung das war. Plötzlich beugte Leo sich vor. „Was ist das für eine Schweinerei?“ fragte er.
Jill stapfte die Radspur entlang, bis sie wieder die dunklen, feuchten Einbrüche zeigte. „Pfui! Wie ekelhaft, dieser Sudelkram!“ schimpfte er. „Wie kommt so ein Zeug unter die Räder?“ Dann stocherte er mit den Stiefelspitzen abseits der Radspur im Sand. Unter einer mäßigen Bedeckung kamen wabenformige Vertiefungen zum Vorschein. In diesen Fächern lagen jeweils mehrere kleine Eier um einen gallertartigen Hautsack. Wahrscheinlich war der Strand überall mit solchen Brutablagen durchsetzt. Das Fahrwerk des Raumgleiters hatte viele von ihnen zerquetscht. Und auch die angrenzenden Flächen waren von der bebenartigen Erschütterung bei der Landung verwüstet worden.
Sie überlegten beide, was das für Lebewesen sein mochten, die hier ihre Nachkommenschaft von der Sonne ausbrüten ließen. In irdischen Maßstäben ausgedrückt, mochten es Schildkröten, Schlangen, Krebse, Molche, Frösche oder gar Großinsekten sein. Daheim auf der Erde bleiben solche Gelege ihrem Schicksal überlassen. Doch das konnte auf dieser Welt ganz anders sein. Leo blickte abwechselnd auf die Baumfront hinter den Dünen und auf das wogende Tangfeld, als befürchte er, jeden Moment könnten Scharen wilder Tiere mit Gebrüll hervorbrechen, um ihre Gelege zu schützen.
„Vielleicht si/id es die Eier der robbenartigen Seesterne, die ich vorhin auf der anderen Irrseiseite zwischen den Klippen gesehen habe“, sagte Jill. „Dann brauchen wir keine Elterninstinkte zu fürchten.“
„Egal. Laß uns verschwinden! Ich mache schleunigst einen kleinen Countdown. Es ist höchste Zeit dafür!“ rief Leo. „Ich möchte nicht zu Fuß unterwegs sein, falls die Eierleger doch noch in Erscheinung treten. Wahrscheinlich stecken sie in den Tangfeldern zwischen den Buhnen.“
„Also los! Starten wir, und nähern wir uns dem Modul lieber doch von See her“, stimmte Jill verdrossen zu.
Als sie sich umdrehten, um zur Fähre zurückzueilen, standen, wie aus dem Boden gestampft, apokalyptische Gestalten vor ihnen. Ungefähr von gleicher Größe wie die Raumfahrer, besaßen sie eine Körperoberfläche aus Weichteilen, Chitinschalen und Hornschuppen. Die Menschen und die Wesen starrten einander an. Dann ließen die Fremden mit verblüffender Schnelligkeit ihre Gliedmaßen wirbeln. Sie griffen die Raumfahrer an. Eine klebrige Masse klatschte gegen die Sichtscheiben und verschleierte das Blickfeld. Jill fühlte, wie er ziTBoden geworfen wurde und sein Helm auf einen Stein krachte. Entsetzt rang er nach Luft. Ihm schwanden die Sinne. -
Als Jill nach einiger Zeit wieder die Augen öffnete, umgab ihn dämmriges, grünes Licht. Ein Gewirr von Blättern versperrte das Blickfeld wie eine Wand. Das Astwerk, an dem sie wuchsen, war schlingenartig ausgebildet. Vereinzelt durchbrachen grelle Sonnenstrahlen hoch über ihm die Baumkronen. Der Boden, “auf dem er lag, schwankte, und die Wipfel wanderten langsam über ihm dahin. Er meinte, so etwas wie den Strang einer Seilbahn aus zähen Ranken über sich zu erkennen. Offenbar war er in einer gondeiförmigen Laubkapsel unterwegs.
Sobald sie zum Stillstand kam, hob Jill den Kopf und entdeckte, daß er wie in einen Kokon eingesponnen war. Schlagartig kam ihm die Erinnerung an den Überfall. Er fragte sich, wie er in dieses Dickicht geraten war. In diesem Augenblick bewegte sich neben ihm die Laubwand und gab nach. Jemand von vertraut menschlicher Gestalt kletterte zu ihm in die Gondel und beugte sich über ihn. Er blinzelte überrascht: Es war eine irdische Frau! Sie musterte ihn, schob danach einen Arm unter seinen Kopf und hielt ihm eine flache Holzschale mit einem zierlich geschnittenen Schnabel an den Mund. Er trank.
„Ich bin erleichtert, ein menschliches Wesen zu sehen“, murmelte er dann. „Bin ich gerettet?“
„Nein“, antwortete sie.
„Nein?“ Er benötigte ein paar Sekunden, um die Bedeutung dieser Verneinung als Gegenteil dessen, was er erwartet hatte, zu erfassen. „Aber du bist doch eine aus dem Modul, nicht wahr?“ fragte er.
Sie nickte und entschloß sich dann auch noch hinzuzufügen: „Ich bin Vitree Laväl“.
Er bemerkte in ihrem Interirdisch einen französischen Akzent und erinnerte sich daran, in der Besatzungsliste der MORGENSTERN, über die Rickmar verfügte, einen solchen Namen gelesen zu haben. Schon wollte er sich seinerseits.vorstellen, als ihm einfiel, daß sie seinen Namen bereits wissen mußte., da er in kleinen Buchstaben auf dem Helm geschrieben stand. Statt dessen fragte er: „Wo ist Leo?“
„Ist das der Name deines Gefährten?“
Jill hatte das Gefühl, Vitree Laväl wolle mit einer solchen Gegenfrage nur Zeit gewinnen, weil sie sich scheute, die Antwort auszusprechen. „Ist er verletzt?“ drängte Jill sie.
„Er ist tot“, sagte sie zögernd. „Ich habe Bescheid bekommen von den Krabbieren, daß er genauso wie du in einen Kokon gelegt worden ist. Auch dich hielt man schon für tot. Die Krabbieren dichten solche Kokons mit konservierendem Harz ab und machen sie damit schwimmfähig, um die darin Eingesponnenen, wie die Bräuche es bestimmen, auf dem Meer zu bestatten.“
„Gib mir noch mal was zu trinken“, krächzte er. Seine Zunge fühlte sich plötzlich pelzig an.
Sie drückte eine Frucht aus und ließ den bitteren Saft in seinen Mund tropfen.