„Warte es ab. So etwas kommt noch, wenn es hier einmal einen irdischen Stützpunkt gibt. Ich habe aber auch so schon Erfolge. Doch zunächst mußte ich mich in den vergangenen Jahren nach und nach von so vielen Ausrüstungsgegenständen trennen wie irgend möglich, um der Mentalität und dem Leben der Krabbieren näherzukommen.“
„Das wäre mir zu dornenreich. Zu soviel Entsagung könnte ich mich nicht durchringen, ganz abgesehen von der Gefährlichkeit eines solchen Entschlusses“, stellte er fest. Aus lauter Mitgefühl hätte er sie jetzt gern berührt.-
Der Knubbelkopf des Wächters drang wieder durch die Blätterwand und nuschelte knackend etwas. Das unterbrach ihren Disput. Vitree stand auf und ging weg. „Es gibt etwas zu verhandeln“, erklärte sie. „Eine Weile muß ich dich allein lassen.“
Jetzt habe ich eine Gelegenheit abzuhauen, dachte Jill; jetzt schadet es ihr nicht. Er schlängelte sich mit Kopf und Hals durch die Laubwand und spähte vorsichtig hinter Vitree her. Neben der Gondel war eine Art Planke. Das knorrige Astwerk eines urwüchsigen Baumes erstreckte sich bis zu vierzig Meter nach allen Seiten und bildete auch das Stützwerk für diesen Teil der merkwürdigen Seilbahn aus zähen Pflanzensträngen. Vier von diesen apokalyptischen Krabbierenkriegern hatten sich im Geäst rings um die Planke verteilt, hockten aber friedlich neben ihren abgelegten Schilden.
Die Kontaktlerin verschwand in einer Öffnung des Baumstammes, begleitet von einem der Wächter. Jill schätzte den Durchmesser des Stammes auf zwölf bis fünfzehn Meter. Offensichtlich war dieser ausgehöhlt, enthielt Kammern und sogar eine Wendeltreppe hinab zum Waldboden. Jill wagte jedoch nicht, sie zur Flucht zu benutzen. Er sah sich nach anderen Möglichkeiten um, auf den Waldboden zu gelangen.
Das Blätterdach des Waldes hoch oben war schirmartig, so daß nur wenig Licht einfiel. Wohin Jill auch spähte, überall bildeten ösenartige Äste Plattformen, auf denen sich große Körbe erhoben. Sie stellten wahrscheinlich die Behausungen der Krabbieren dar. Die glattgewetzte Rinde bei den stärkeren, fast waagerecht verlaufenden Hauptästen deutete auf häufige Benutzung hin. Offenbar spielte sich der Fußgängerverkehr nicht nur auf dem Waldboden ab, den Jill in dämmriger Tiefe gerade noch erkannte. Ein Trupp Krabbieren folgte auf dem Nachbarbaum einem solchen Gehweg im Geäst, der anscheinend nach unten führte. Jill merkte sich die Stelle und zog den Kopf in die Gondel zurück.
Eigentlich hatte Jill vorgehabt, seinen Einsatzanzug auszuziehen und ihn samt Helm in den Kokon zu stopfen, damit es so aussah, als liege er drin. Er würde ohne die Schutzkleidung beweglicher sein, vor allem, wenn es darum ging, einen längeren Fluchtweg im Astwerk zu benutzen. Doch schon nach den ersten Handgriffen, sich seiner zu entledigen, verwarf er diesen Gedanken und entschloß sich, den Anzug doch anzubehalten. Dieser bot ihm eine gewisse Abschirmung, selbst wenn er ihn schwerfälliger machte. Es mochte Gefahren geben, gegen die so ein Spezialanzug besser schützte als nur die Unterkombination. Außerdem enthielt der Anzug in den Taschen die Minimalausrüstung, auf die Jill besser nicht verzichten wollte.
Jill nahm den Nadler aus dem Futteral, konzentrierte sich auf die Flucht, holte tief Luft, sprang durch die Blattwand und — verhedderte sich hoffnungslos in Pflanzensträngen. Er purzelte über die Planke und mußte sich erst aus den Verschlingungen befreien. Der Nadler entglitt ihm, rutschte bis an die Kante und blieb dort gerade lange genug vor dem Absturz liegen, daß Jill ihn eben noch im letzten Moment ergreifen, aufspringen und loslaufen konnte.
Die Krabbieren fuhren aus ihrer Ruhehaltung auf, packten ihre Schilde und starrten ihn an, ohne sich vom Fleck zu rühren. Sie waren unentschlossen. Jill nutzte diesen Vorteil und stapfte auf einem dicken Ast zwischen ihnen hindurch zum Nachbarbaum. Er beglückwünschte sich, schwindelfrei zu sein, denn die Stege in den Baumkronen waren ohne Geländer. Bald fand er den Gehweg nach unten und erreichte schneller als erwartet den Waldboden. Ein Blick zurück ließ ihn erkennen, daß ihm die Wachen folgten.
Jill wandte sich in die erste beste Richtung und stolperte davon. Hastig riß er sich dabei den Helm vom Kopf und hakte ihn am Gürtel fest. Das gab ihm Sichtfreiheit. Die Verfolger holten auf, und einer der Krieger warf eine hartschalige Frucht. Sie zerplatzte über Jill an einem Stamm und schleuderte Dutzende von Stacheln auf ihn hinab. Sie blieben an ihm haften. Jill wich den Krabbieren aus, die ihm den Fluchtweg verlegten, und änderte die Richtung. Vor einem Dickicht zögerte er. Hoffentlich sind dort keine Buschwak- kerer, was auch immer das für Tiere sein mögen, dachte er. Dann brach er sich entschlossen Bahn, obwohl ihn mehrmals kleine Tiere attackierten, die sich mit Saugnäpfen an ihn hefteten. Den Nadler hatte er inzwischen wieder weggesteckt; im Buschwerk nützte er ihm nichts. Er schützte sein Gesicht mit dem Arm. Der Anzug hielt den Saugnäpfigen stand. Überraschend schnell stellten die Tiere ihre Angriffe ein. Mühsam arbeitete sich Jill weiter durch das zähe Gestrüpp. Die Krabbieren schienen die Verfolgung verlangsamt zu haben.
Plötzlich hatte er den Wald hinter sich gelassen. Vor ihm breiteten sich felsige Küste und das Meer aus. Mitten in den Klippen lag das Modul. So aus der Nähe betrachtet, hatte es nur noch wenig Ähnlichkeit mit einem Felsklotz. Wind blies Jill ins Gesicht und ließ seine Haare wehen. So blindlings, wie er losgelaufen war, schien es ihm unfaßbar, auf das Modul gestoßen zu sein. Schnell kletterte er zu ihm hinunter. Vitree hatte gesagt, das Modul wäre ihr lange Zeit eine sichere Festung gewesen. Und so, wie es nun vor ihm aufragte, wirkte es auch auf ihn wie eine Burg. Sollten die Krabbieren ihn hier belagern, wäre er lange Zeit sicher. Keuchend ruhte er aus, ehe er das Magnetschloß betätigte. Das aufflammetfde Licht in der Schleuse und der vertraute Bordgeruch verliehen ihm ein heimatliches Gefühl. Seine Gelassenheit kehrte zurück. Er blieb vor der Schleuse stehen und spähte nach den Verfolgern.
Oben am Felssaum der Küste standen vier Krabbierenkrieger vor der Kulisse des Waldes. Sie warteten ab. Ihre Chitinrüstung schimmerte im Abglanz des Meeres kupfern und wirkte martialisch wie mittelalterliche Bronze. Bei einiger Phantasie vermochte sich Jill auf diese Entfernung sogar Schwerter, Lanzen, Federbusch und Kettenhemd vorzustellen. Was er als Kettenhemd ansah, waren vermutlich jedoch nur Armschuppen. Ähnlich mochte es mit den anderen Details sein.
Er versetzte sich in die Lage des Verfolgers und schmunzelte unwillkürlich, denn er bot ihnen einen kaum weniger phantastischen Anblick: Vor dem Eingang eines zauberkräftigen Seeschlosses von mysteriöser Herkunft stand die silberglänzende Figur eines Himmelsdämons, mit den Dornen der Kampffrucht gespickt. Der Himmelsdämon hatte schockierenderweise seinen Außenkopf abgerissen und an den Gürtel gehängt. Den Innenkopf umrahmten die Haare als ein. Kranz von Flimmertentakeln. Mittendrin prangte ein fleischiger Sporn, dessen Funktion als Atemorgan sicherlich nicht zu erraten war. So machten sie sich also gegenseitig furchtbare Bilder voneinander.
In diesem Augenblick erschien zwischen den martialischen Kriegern eine Gestalt in einem sonnengelben Umhang: Vitree Laväl! An Leinen führte sie Tiere, die Jill für Riesenwürmer hielt. Langsam schritt sie zwischen den Klippen herab und überquerte den verwitterten Steg zum Modul. Dabei erwiesen sich die Würmer als Madenmöpse mit glasigen Schnürwülsten, wie sie auf der Erde Engerlinge besaßen. Gemächlich buckelten und walkten sie über das Geröll. Die Körperwallungen gingen von einer blumenkohlartigen Flachnase aus, über der Augenhörnchen standen und unter der ein ausstülpbares Mundloch schmatzte. Die Scheitellinie war mit lachsfarbenen Lockenfedern geschmückt. Arabeske Hautmuster an den Flanken komplettierten den Körperschmuck. Da die Kosmonautin sie an der Leine führte, stufte Jill die Madenmöpse als zahm ein. In angemessenem Abstand folgte ihr ein unbewaffneter Krabbiere, der Jills leeren Kokon trug.