„Dazu braucht er mich nur den Strand betreten zu lassen.“
„Vielleicht hat er genau das vor, nur muß er das in einem zulässigen Rahmen tun, der den Gebräuchen der Krabbieren entspricht. Ich habe bei der Verhandlung vorhin versucht, ihn dazu zu bewegen, den Weg zur Fähre freizugeben. Er hat unter einer Bedingung zugestimmt.“
„Und die wäre?“ fragte Jill argwöhnisch.
„Du sollst dich heute nacht mit ihm auf einem Floß in der Bucht einer Sache stellen, die die Krabbieren als VIKONDA bezeichnen. In dieser Zeit “ wird er dich einschätzen, sozusagen die Lauterkeit deiner Seele prüfen. Krabbieren sind nämlich unglaublich sensibel. Ihr werdet in der Strömung der Bucht kreisen, bis bei Sonnenaufgang die Position des Floßes Auskunft darüber gibt, welche Bedeutung deine Tat beziehungsweise die des Him- melsfloßlers hat und was demzufolge zu geschehen hat. Der Visionär wird also die VIKONDA interpretieren.“
Jill blickte sie mit vor Entsetzen weit geöffneten Augen an und murmelte: „Das kann doch alles nur ein Alptraum sein.“
„Dann wäre mein Leben in den letzten Jahren auch ein Alptraum gewesen“, sagte sie. „Aber ich habe das nie so empfunden, doch Entbehrungen, Einsamkeit, Ungewißheit hat es mir gebracht und Geduld erfordert. Von dir wird all das jetzt nicht verlangt, sondern nur etwas Entschlossenheit und Vertrauen. Kannst du nicht einmal das aufbringen?“
„Was meinst du mit Vertrauen? Soll ich mich auf dich oder auf den Medizinmann verlassen? Ist denn das, was dieser Visionär sagt, hier Gesetz? Vielleicht wünscht er dich und mich zum Teufel. In dem Fall wird sein Spruch über den Ausgang der VIKONDA für uns katastrophal sein.“
„Er ist alt und lebenserfahren und stellt das dar, was wir unter gütig verstehen würden“, erklärte sie. „Früher hatte er ein administratives Amt inne. Er. hat also auf jeden Fall auch eine Ahnung von den praktischen Seiten des Lebens. Jetzt, da er für die Ausgeglichenheit seiner Inselgemeinschaft zu sorgen hat, kommt ihm das zustatten. Er muß trotz dieser oder jener Ängste unter seinen Leuten alles aufspüren, was Zuversicht weckt oder was Auswege eröffnet. Mit anderen Worten: Er muß überzeuge.n und nicht reglementieren. Das erfordert Klugheit und Gelassenheit.“
Jill war noch immer besorgt, „Kann denn eine Wissenschaftlerin wie du soviel blindes Vertrauen in Rituale setzen?“ murrte er. „Willst du mich ernsthaft dazu veranlassen, einen einheimischen Hokuspokus um Mitternacht mitzumachen?“
„Zunächst will ich dir den Weg zum Strand öffnen, der, wie du weißt, tabu ist. Es war doch dein Vorschlag, mit Rickmar Iggensen in Verbindung zu treten, nicht wahr? Dazu mußt du mit mir zum Visionär gehen. Ich jedenfalls bin überzeugt davon, daß meine Mission einen Schritt weiterkommt, wenn du auf die VIKONDA eingehst und dich der mitternächtlichen Floßfahrt stellst. Was ist denn schon dabei, eine Nacht auf einem Floß zu verbringen, im Kokon zu liegen und abzuwarten? Wie der Spruch des Visionärs auch ausfallen mag, wir sind Raumfahrer und haben immer noch Mittel und Möglichkeiten, uns zu wehren.“
Er sah sie zweifelnd an. Die Sonnenscheibe der Wega stand nun hoch über der Insel. Auf der Grenze zwischen Wald und Klippen gerieten die vier Krieger in Bewegung. Sie schlugen um sich und hieben auf etwas ein, was plötzlich zwischen ihnen herumwieselte.
„Buschwackerer“, sagte Vitree. „Paß auf! Gleich bekommst du etwas zu sehen.“
Die beiden Ätzspeier schnellten sich über die- Geröllbrocken auf die Buschwackerer, als hätten sie nur auf eine solche Gelegenheit gewartet, um ihren Jagdeifer zu beweisen. Sie spien meterweit und zielsicher. Schon allein ihr Erscheinen jagte die Buschwackerer in die Flucht. Plötzlich begriff Jill, daß die Strandwachen, die ihn und Leo überwältigt hatten und die für gewöhnlich die Brutanlagen der Gierschnabler vor den Buschwackerera schützten, vermutlieh Ätzspeier in der Nähe gehabt hatten. Wenn sie sie nicht gegen ihn und Leo eingesetzt hatten, so verriet dies, wie überlegt sie handelten und wie sie bei allem Entsetzen, das sie empfunden haben mochten, doch Herr ihrer Panik geblieben waren.
Vitree zupfte ihm die Stacheln vom Raumanzug. „Das war ein guter Wurf gewesen“, sagte sie. „Ohne diese Stachelblase, die ein Krieger nach dir schleuderte, hätten dir die Buschwackerer, als du in ihr Revier eindrangst, gewiß mehr zu schaffen gemacht. Die Stacheln verbreiten nämlich ein Aroma, das sie nicht mögen.“ Sie stieß ihm in die Seite. „Na, komm schon“, sagte sie aufmunternd und stand auf, um ihn den Klippenpfad zum Wald hinauf zu begleiten. „Überhaupt war es ein glücklicher Umstand, daß du bei deiner Flucht ausgerechnet das Modul gefunden hast. So konnte ich die Sache wie einen selbstverständlichen Vorgang darstellen. Ich sagte, du holst dir eine Medizin, die dort lagert und die du dringend brauchst.“
Jill ging nicht darauf ein. Seine Gedanken kreisten um die Begegnung mit dem Visionär. Immer wieder murmelte er „Vikonda! Vikonda! Vikonda!“ vor sich hin. Dieses Wort besaß zwar einen unheimlichen, rituellen Klang, doch allmählich nahm diese Lautkombination für ihn auch eine träumerische Verheißung an. Mit der Zeit kam ihm das bevorstehende Abenteuer nicht mehr so gewagt vor. Er musterte den Krabbieren, der den leeren Kokon hinter ihm hertrug, nun weniger mißtrauisch.
Als die beiden oben angekommen waren, traten die vier Krieger zur Seite und sahen zu, wie Vitree ihre Ätzspeier wieder an die Leine nahm. Sie ließen auch den wenig später folgenden Krabbieren mit dem Kokon vorbei und schlössen sich der Gruppe erst mit Abstand an. Vitree führte sie alle um das Dickicht herum in den Wald der knorrigen Schirmbäume.
Allmählich wurde die Gruppe größer, denn aus allen Richtungen kamen Krabbieren hinzu und schlössen sich ihnen an wie auf einen geheimen Ruf hin. Eine Prozession entstand. Jill empfand das als bedrohlich. Auch voraus gab es zwischen den Stämmen eine Ansammlung wogender Körper, Glieder, Knubbelköpfe und Fühler. Widerstrebend folgte er seiner gelbgewandeten Führerin.
„Solange dein Kokon in der Nähe ist, bis du unantastbar“, flüsterte sie ihm zu. „Du bist jetzt eine Mystifikation. Für die Krabbieren stehst du auf der Schwelle zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Deshalb unternehmen sie nichts, sondern beobachten nur das Geschehen.“
Jill gelang es nicht, unbesorgt zu bleiben. Die vier Schildträger mußten ihre Position wechseln und einen Weg durch die Menge bahnen. Es roch inzwischen penetrant nach Firnis und Lack; ein Geruch, der vermutlich jenen Körperpartien der Krabbieren entströmte, die mit Chitin bedeckt waren.
Vitree versuchte Jill von unangenehmen Gedanken abzulenken und berichtete, der Visionär habe bei der Verhandlung gesagt, er fühle das Herannahen eines zweiten heulenden Himmelsfloßlers.
„Gar nicht so dumm, dieser Visionär“, sagte Jill. „Er denkt logisch und hat sich ausgerechnet, daß man Leo und mich vermissen wird. Was liegt näher als der Gedanke, ein weiterer Raumgleiter könnte den Versuch machen, die Lage zu klären. Dazu würde der womöglich auch noch auf dem Strand landen und den Rest der Brutanlagen zerstören. - Ha!“ fügte er triumphierend hinzu. „Wahrscheinlich soll ich deshalb schnell meine Siebensachen packen und schleunigst verschwinden.“
„Mach dir keine falschen Hoffnungen, denn eine festgesetzte VIKONDA wird nie wieder aufgehoben.“
Grimmig grinsend deutete Jill auf seinen Kokon: „Vielleicht kann ich diese leere Hülle als meinen Stellvertreter dafür abkommandieren.“
Vitree lachte etwas nervös zu diesem Scherz. „Na ja, wenn du sogar schon Humor entwickelst, wirst du alles, was noch kommt, auch gut überstehen.“
Auf einem breiten Weg wurden sie von einer Sänfte erwartet, in der Jill den alten Krabbieren vermutete, der das Amt des Visionäre ausübte. Das krabbierische Volk hielt respektvoll Abstand zu der Sänfte. Nun, da der Gang der Ereignisse für ihn seinen größten Schrecken verloren hatte und offenbar alles in geordnete Bahnen gelenkt worden war, richtete Jill seine Aufmerksamkeit auch auf Einzelheiten. Ihm fielen Schnitzereien auf, die zu beiden Seiten des Weges standen. Sein Blick war nicht geübt genug, um zu erkennen, was sie darstellten. Aber der kunstvolle Gebrauch des Werkstoffes Holz war unverkennbar. Auch der Boden des Prozessionsweges war mit Holz ausgelegt, doch waren nicht einfach Bohlen und Würfel verlegt worden. Er erkannte Mosaiken. Eine dicke Harzschicht, hart und trocken, versiegelte den Weg glasartig gegen Feuchtigkeit und Abnutzung.