»Richtig.«
»Dann drängt er uns fast von der Straße, als er aus Sugar Hollow abhaut. Und jetzt parkt sein Motorrad seit zwei Tagen vor dem Postamt.«
Tucker kratzte sich am Ohr. »Etwas ist faul im Staate Dänemark.«
9
Etwas war faul, und zwar in Sugar Hollow. Eine Gruppe von Grundschülern, die am Mittwoch eine Exkursion auf einem Naturpfad unternahm, stieß auf die Überreste eines Menschen. Bei der großen Hitze wimmelte die Leiche von Würmern.
Von dem Gestank tränten den Kindern die Augen, und einige mußten sich übergeben. Dann rannten sie wie der Teufel durch den Hohlweg zum nächsten Telefon.
Cynthia Cooper nahm den Anruf entgegen. Danach traf sie sich mit Sheriff Rick Shaw auf dem Parkplatz von Sugar Hollow. Der Leiter des Zeltlagers, ein hübscher junger Mann von neunzehn Jahren namens Calvin Lewis, führte den Sheriff und seine Stellvertreterin zu dem grausigen Schauplatz.
Cynthia zog ein Taschentuch heraus und hielt es sich vor Mund und Nase. Rick bot Calvin eins an. Der junge Mann nahm es dankbar entgegen.
»Und Sie?« fragte er.
»Ich halt mir die Nase zu. Ich hab schon mehr von so was gesehen, als Ihnen lieb sein kann.« Rick ging zu der Leiche.
Cynthia, darauf bedacht, die Leiche nicht anzurühren und das Gelände ringsum nicht zu zertreten, nahm die schwärzliche Masse von Kopf bis Fuß in Augenschein.
Dann entfernten sie sich von dem Gestank und gingen zu Calvin, der wohlweislich Abstand gehalten hatte.
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, als Sie die Leiche gefunden haben?« fragte Rick.
»Nein.«
Cynthia kritzelte etwas in ihr Notizbuch. »Mr. Lewis, wie sieht es mit abgebrochenen Zweigen aus, oder mit Schleifspuren, falls die Leiche durchs Unterholz gezogen wurde?«
»Nichts dergleichen. Wenn wir keine Pilze gesucht hätten - die Klasse soll verschiedene Pilzarten bestimmen -, ich glaube nicht, daß wir. äh, das da gefunden hätten. Ich hab's gerochen und bin, äh, meiner Nase gefolgt. Der Gestank war überall so stark, daß ich ihn zuerst nicht orten konnte. Wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich die Kinder ferngehalten. Leider haben einige die Leiche gesehen. Das wollte ich nicht - ich hätte ihnen gesagt, es sei ein totes Reh.«
Rick legte dem jungen Mann den Arm um die Schultern. »Ein ziemlicher Schock. Es tut mir leid.«
»Die Kinder, die das gesehen haben - ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll. Sie werden noch wochenlang Alpträume haben.«
Cynthia sagte: »Es gibt eine Menge guter Therapeuten hier in der Gegend, die Erfahrung darin haben, Kindern über ein Trauma hinwegzuhelfen.« Sie verschwieg, daß die meisten Therapeuten nie in so enge Berührung kommen mit dem nackten Leben oder vielmehr dem nackten Tod.
Nachdem sie das Gelände um den Leichnam abgeriegelt hatten, warteten Cynthia und Rick auf ihre Mannschaft. Calvin ging wieder zu den Schülern auf dem Parkplatz.
Rick lehnte sich an eine große Eiche und zündete sich eine Zigarette an. »Ist lange her, seit ich so was zuletzt gesehen habe. Ein regelrechter Würmerhamburger.«
»Der ganze Rücken ist weggeschossen. Eine .357er Magnum?«
»Größer.« Rick schüttelte den Kopf. »Muß einen lauten Knall gegeben haben.«
»Die Leute ballern doch dauernd mit Schießeisen in der Gegend herum.« Cynthia schnorrte eine Zigarette von ihrem Chef. »Auch wenn keine Jagdsaison ist.«
»Ja, ich weiß.«
»Noch ein paar Tage, und die Tiere hätten wohl die Arme abgerissen, und die Beine auch. Wenigstens ist die Leiche intakt.«
»Hoffen wir, daß uns das weiterhilft.« Er blies eine blaue Rauchwolke aus, was sich beruhigend auf ihn auswirkte. »Wissen Sie, hier hat es früher mal Schwarzbrennereien gegeben. Klares Bergwasser. Einfach ideal. Die Kerle hätten einen glatt abgeknallt. Die Hanfanbauer haben da subtilere Methoden. Hier auf alle Fälle.«
»Hier ist weit und breit keine Brennerei - glaub ich wenigstens nicht.«
Rick schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, seit Sugar Hollow für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Haben Sie das Zeug je getrunken?«
»Nein.«
»Ich schon, ein einziges Mal. Brennt wie der Teufel. Heißt ja nicht umsonst heiße Ware<.« Er sah über die Schulter zu der Leiche. »Bin neugierig, in was wir da reingeraten sind.«
»Schätze, das werden wir herausfinden.«
»Könnte eine Weile dauern, aber Sie haben recht. Jedesmal, wenn ein Mord geschieht, hoffe ich, daß es ein Einzelfall ist und nicht der Anfang von. Sie wissen schon.«
Sie wußte, er meinte einen Massenmörder. Bislang war so etwas in ihrer Gegend noch nicht vorgekommen. »Ich weiß.
Oje, da kommen Diana Robb und die Mannschaft. Wenn Diana mich rauchen sieht, kriege ich einen Grundkurs in Gesundheit verpaßt.« Cynthia trat flugs ihren Zigarettenstummel in der weichen Erde aus.
»Würde das was nützen?«
»Aber sicher - bis zur nächsten Zigarette.«
10
Ein feuchter Wind blies von den Bergen. Harry ruckelte und zuckelte auf Johnny Knatterton. Der Dungstreuer wendete und warf Holzspäne und Mist aus. Die Sonne sah aus wie auf die Bergspitze gesteckt, die Schatten der Eichenreihe wurden länger. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang waren Harry die liebsten Tageszeiten. Und heute erfüllte der süße Duft ihres roten Klees die Luft und bereicherte den Sonnenuntergang. Harry baute auf ihren Feldern Alfalfa, roten Klee und Timotheusgras an. Das brachte ihr gewöhnlich eine sehr gute Heuernte ein.
Katze und Hund schliefen im Stall. Ein voller Arbeitstag im Postamt hatte sie erschöpft. Tucker hörte einen schweren Wagen in der Einfahrt knirschen. Sie sprang hoch und weckte Mrs. Murphy.
»Wer ist das?« Tucker wetzte nach draußen.
Blair Bainbridges Kombi kam in Sicht. Blair hielt an und sprang heraus, beschattete mit der Hand die Augen, erspähte Harry und sprintete aufs Feld.
»Komisch«, sagte Tucker bei sich. »Sonst sagt er uns immer hallo.«
Mrs. Murphy, die in der Türöffnung lag und gähnte, antwortete auf Tuckers unausgesprochenen Gedanken: »Vielleicht ist ihm klargeworden, daß er in Mom verliebt ist.«
»Sei nicht so sarkastisch. « Tucker setzte sich, stand auf, setzte sich hin, stand endgültig auf und trottete zum Traktor.
Mrs. Murphy wälzte sich auf die andere Seite. Sie hatte keine Lust, sich vom Fleck zu rühren. »See you later, Alligator.«
Tucker raste Blair nach, holte ihn ein und fegte an ihm vorbei.
Als Harry die beiden sah, stellte sie den Motor ab. Bei Johnnys lautem Geknatter konnte man nicht gut hören. »Blair, hallo.«
Er keuchte atemlos: »Ein Mord!«
Harrys Augen wurden weit. »Wer?«
»Das weiß man nicht.«
»Woher weißt du's?«
Er legte eine Hand an den Sitz des Traktors. »Zufall.«
»Zufall oder zufällig?« Sie lächelte über sich selbst; denn dies war genau die Frage, die ihre Mutter gestellt hätte.
Er holte tief Luft, als Tucker den Traktor umrundete. »Zufällig war da ein Unfall auf der 810 bei Wyant's Store. Ich hab das Tempo gedrosselt und sah Cynthia Cooper, die völlig außer sich war, da hab ich bei ihr angehalten. Es war ein Jugendlicher in einem alten Izuzu-Trooper, den er fuhr wie einen Pkw. Er ist an den Straßenrand geraten, hat zu stark eingeschlagen und dann Cynthia abgedrängt, die aus der Gegenrichtung kam. Sie hat geschäumt vor Wut. Der Junge hat natürlich geheult und sie angefleht, seinen Eltern nichts zu sagen.«
»Ist ihr was passiert?«
Er schüttelte den Kopf. »Dem Jungen auch nicht. Ich bin aber dageblieben, um ihr beizustehen, auch wenn's nicht viel zu tun gab; aber sie ist sonst nicht der Typ, der die Nerven verliert. Sie sagte, sie käme gerade von Sugar Hollow, wo eine Naturkundetruppe einen Toten entdeckt hat. Sie sagte, er sähe übel zugerichtet aus und sie würde heute abend nichts essen. Sie hat beschrieben, was der Mann anhatte - Harry, ich glaube, es ist der Motorradfahrer.«