Harry saß eine ganze Weile schweigend da. »Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Sie müssen sich zwischen den beiden Männern entscheiden.«
»Blair hat seine Absichten eigentlich nie deutlich erklärt.«
»Mir geht es im Moment gar nicht um seine Gefühle. Es geht mir um Ihre. Entscheiden Sie sich.«
14
Noch genervt von dem gestrigen Abend, wachte Harry früh auf und stellte fest, daß es regnete. Da der Regen dringend nötig war, störte das Grau sie kein bißchen. Sie schlüpfte in ihr uraltes Smith-College-T-Shirt, eine abgeschnittene Jeans und Turnschuhe und eilte zum Stall.
Nachdem sie die Pferde gefüttert hatte, hängte sie einen Zügel an einen Sattelhaken im Mittelgang, nahm ein Stück Sattelseife, einen kleinen Eimer Wasser, einen Schwamm und ein Tuch und begann mit der Reinigungsprozedur.
Rhythmische Betätigungen halfen ihr immer, mit sich und den Ereignissen in ihrem Leben ins reine zu kommen.
Mrs. Murphy kletterte auf den Heuboden, um Simon zu besuchen. Da er ein Nachttier war, schlief er fest, also sprang sie auf eine Boxentür und von da auf eine alte, aber gut gepflegte Truhe mit Sattelzeug. Die Holztruhe, die auf vier Hohlziegeln stand, war blau und golden gestrichen und trug in der Mitte die Initialen M. C. M. Mary Charlotte Minor.
Nach der Scheidung hatte sie den Namen Haristeen beibehalten. Es war schon schwer genug, seinen Nachnamen bei der Heirat abzulegen; ihn dann aber wieder anzunehmen war für alle schlichtweg verwirrend. Jedenfalls behauptete das Harry, aber Susan Tucker erklärte, sie würde ihren Ehenamen beibehalten, weil sie mit Fair noch nicht fertig sei. Alle Welt hatte eine Meinung zu Harrys Gefühlslage, und niemand scheute davor zurück, sie ihr unter die Nase zu reiben.
Sie hatte gestern abend genug Emotionen und bohrende Fragen gehabt. Jetzt wollte sie in Ruhe gelassen werden. Von wegen.
Blair hielt in der Zufahrt zum Stall. Sie hatte die Lichter im Stall an, daher wußte er, wo sie war. Er duckte sich unter den Regentropfen und trug einen Weidenkorb in den Gang.
»Dies ist sozusagen eine Entschuldigung.« Er ließ den Deckel des Korbes aufschnappen, der angefüllt war mit köstlichen Hörnchen, Marmeladen und Gelees von Fortnum und Mason, mundgerechten Schinkenbiskuits, einem duftenden Stiltonkäse, einem kleinen Glas erlesenen französischen Senf und einer großen Packung Erdnußbutterplätzchen. Die Ecken waren mit Crackern und Pastetenkonserven ausgestopft. Noch ehe sie etwas sagen, ihm danken konnte, eilte er mit einem Paket Luxuskaffee in die Sattelkammer.
»Blair, ich hab hier bloß eine Kochplatte. Ich hab nichts, womit du Kaffee machen kannst, jedenfalls keinen anständigen.« Sie wollte sich schon entschuldigen, weil sie den Satz mit einem Adjektiv beendet hatte, aber dann dachte sie, na und! Was hat die Grammatik in der Umgangssprache verloren?
Er ging wortlos zu seinem Kombi und kam mit einer schwarzen Krups-Kaffeemaschine, einer elektrischen Kaffeemühle und einem kleinen Apparat zum Aufschäumen von Milch für Cappuccino zurück.
»Jetzt hast du was.« Er zeigte auf die Espressomaschine. »Das kommt in die Küche. Jetzt hast du alles, was du brauchst.«
»Blair« - ihr klappte der Unterkiefer herunter - »das ist so, äh, ich weiß nicht, was ich sagen soll - danke.«
»Ich war ein Esel. Es tut mir leid. Wenn du meine Entschuldigung annimmst, brühe ich dir auf, was dein Herz begehrt. Wie wär's mit einem starken kolumbianischen Kaffee für den Anfang? Dann können wir im Korb kramen und mit Espresso fortfahren oder mit Cappuccino, was du willst.«
»Klingt prima.« Harry rieb feste an einem Zügel. »Und ich nehm deine Entschuldigung an.«
Mrs. Murphy ruhte, den Schwanz um sich gelegt, auf der Truhe mit dem Sattelzeug. Sie schien im Sitzen zu schlafen. Die Menschen fielen immer wieder auf diesen Trick herein. Es war die ideale Lauschpositur.
Tucker, die weniger raffiniert war, machte sich am Korb zu schaffen.
Blair breitete eine kleine Tischdecke über den wackligen Tisch in der Sattelkammer. Auf einem Bord erspähte er eine alte Kaffeebüchse, die Harry als Getreidemaß benutzte. Die füllte er mit Wasser, dann flitzte er nach draußen in den Regen, um schwarzäugige Susannen zu pflücken. Als er zurückkehrte, war der Kaffee schon aufgebrüht.
»Du bist ja pitschnaß.« »Ist ein gutes Gefühl.« Seine haselnußbraunen Augen strahlten.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah auf den Tisch. »Ich bewundere Leute, die eine künstlerische Ader haben. Ich könnte aus lauter wertlosem Kram nicht so was Hübsches zaubern.«
»Dafür hast du andere Talente.«
Harry lachte. »Nenn mir eins.«
»Fishing for compliments«, murmelte Tucker.
»In deiner Gegenwart fühlt man sich einfach wohl. Du hast ein ansteckendes Lachen, und ich glaube, du verstehst mehr von Landwirtschaft als sonst irgend jemand, den ich kenne.«
»Blair«, lachte sie, »du bist nicht auf einer Farm aufgewachsen. Jeder, der das von der Pike auf kennt, versteht auch was davon.«
»Ich sehe doch die anderen Farmer in dieser Gegend. Ihre Weiden sind nicht so fett, ihre Zäune sind nicht so gut in Schuß, und sie nutzen Raum und Gelände nicht so logisch. Du bist die Beste.«
»Danke.« Sie biß in ein Schinkenbiskuit, das dick mit Senf bestrichen war. »Ich hab gar nicht gewußt, wie hungrig ich bin.«
Sie aßen, schwatzten und beendeten ihr Mahl mit einem sagenhaft guten Cappuccino.
Blair atmete den intensiven Duft von Leder, Sattelseife, Kieferspänen, den warmen Duft der etwas weiter entfernt stehenden Pferde ein.
»Dieser Stall strahlt Glück und Frieden aus.«
»Dad und Mom haben da viel Liebe hineingesteckt. Dads Familie ist unmittelbar vor dem Unabhängigkeitskrieg aus Ostvirginia hierhergezogen, aber dieses Stück Land haben wir erst um 1840 gefunden. Die reichen Hepworths, das war Moms Familie, sind in Ostvirginia geblieben. Die Minors, arme, bescheidene Bauern, nahmen, was sie konnten. Die Depression hat Großpapa und Großmama hart zugesetzt, und als Dad kam und alt genug war, zuzupacken, gab es eine Menge zu tun. Als er feststellte, daß die Farm nicht genug abwarf, um davon zu leben, arbeitete er außerhalb und brachte Geld mit nach Hause. Nach und nach gelang es ihnen, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, Äpfel, Heu, eine bescheidene Maisernte. Mom arbeitete in der Bücherei. Früh am Morgen und spät am Abend erledigten sie die Farmarbeit. Ich vermisse sie, aber wenn ich mich umschaue, sehe ich die Liebe, die sie hinterlassen haben.«
»Sie haben auch in dir eine Menge Liebe hinterlassen.«
Tucker legte den Kopf auf Harrys Knie. »Sag was Nettes, Mom.«
»Danke.«
»Ich bin heute hergekommen, um mich zu entschuldigen, und, hm, dir zu sagen, daß ich dich sehr gern habe. Ich bin nicht sehr gefestigt, ich meine, finanziell schon, aber nicht emotional. Ich hab dich wirklich gern, Harry, und ich war nicht, oh.« Er hielt inne, denn dies war schwieriger, als er gedacht hatte. »Ich war dir gegenüber nicht fair. Ich weiß jetzt, daß unser Zusammensein hier eine viel größere Bedeutung für die Leute hat, als wenn wir in New York leben würden. Ich möchte dir nichts vormachen.«
»Ich hab nicht das Gefühl, daß du das tust. Ich bin froh über unsere Freundschaft.«
»Schön, daß du das sagst. Ich bin auch froh, aber ich schwanke. Manchmal will ich mehr, aber wenn ich daran denke, was das hier bei euch bedeuten würde, mache ich einen Rückzieher. Wenn wir in New York lebten, ich wüßte, was zu tun wäre. Hier, hm, ist mehr Verantwortung dabei. Ich bin gerne hier, aber ich bin auch gerne unterwegs, und ich schätze, mein Ego braucht das, diese Beachtung. Ich gebe es ungern zu, aber.«