Aysha senkte die Stimme, ein Zeichen, daß das, was sie mitzuteilen hatte, ungeheuer, wahrhaftig und schrecklich wichtig war und daß sie es nur für sich behalten hatte, weil sie eine richtige Lady war. »Sie hat auf Hogan Freelys Trauerfeier meinen Mann geküßt.«
Da weder Harry noch Cynthia es erwähnt hatten, wußte Marilyn nicht, daß bei dem Vorfall ein Kuß im Spiel gewesen war. Da die zwei Rivalinnen aus Leibeskräften gebrüllt und gekreischt hatten, kannte sie allerdings den Rest. Sie hatte, wie die meisten anderen Trauergäste, jedes Wort gehört. »Ich wäre auch wütend geworden. Das kann ich verstehen. Ich würde nicht wollen, daß jemand meinen Mann küßt, schon gar nicht eine frühere Geliebte. Aber, Aysha, du mußt darüber wegkommen. Immer, wenn du auf sie reagierst, kriegt sie, was sie will. Ihr, nicht Norman, gilt deine ganze Beachtung, und ihr, nicht dir, gilt Normans ganze Beachtung. Da mußt du drüberstehen.«
»Du hast leicht reden. Ich erinnere mich, wie falsch sie in der Schule war - so freundlich, wenn sie mit dir sprach, und so gemein hinter deinem Rücken.« »Ich will nichts davon hören.« Marilyn trat einen Schritt auf Aysha zu, merkte, was sie tat, und blieb stehen. »Wenn du so weitermachst, Aysha, wirst du genau so eine Zimtzicke wie deine Mutter.«
»Du denkst, du bist besser als alle anderen, weil du das Vermögen deiner Mutter erbst. Wenn Big Marilyn meine Mutter wäre, würde mir angst und bange. Jede Frau wird mal wie ihre Mutter. Meine ist ein kleiner Fisch gegen deine.«
»Ich mach mir nichts aus dem Geld.«
»Wer es hat, macht sich nie was draus. Das ist es ja eben! Ich hoffe, daß ich eines Tages so viel habe wie du, damit ich's dir unter die Nase reiben kann.«
»Deine Zeit ist um. Ich übernehme jetzt.« Marilyn ging ruhig in den Wohnraum, um die Besucher in Monroes Heim zu begrüßen.
33
Eine Klimaanlage war ein Luxus, den Harry sich nicht leisten konnte. Ihr Haus am Fuß des Yellow Mountain war immer kühl, außer in den schwülsten Sommernächten. Dies war so eine schlimme Nacht. Alle Fenster standen offen, um den nicht vorhandenen Wind hereinzulassen. Harry warf und wälzte sich herum, schwitzte, und am Ende fluchte sie.
»Ich weiß nicht, wie du dabei schlafen kannst«, murrte sie, als sie über Tucker hinwegstieg und ins Badezimmer ging.
Als Harry sich die Zähne putzte, erklomm Mrs. Murphy behende das Waschbecken.
»Höllisch heiß.«
Den Mund voll Zahnpasta, antwortete Harry nicht auf Murphys Bemerkung. Nachdem sie den Mund gespült hatte, kraulte sie die Katze, die genüßlich schnurrte.
Ein Gang durchs Haus verschaffte keine Erleichterung. Sie ging in die Bibliothek, von Murphy beschattet.
»Mutter, dies ist der heißeste Raum im Haus. Warum legst du dir nicht Eiswürfel auf den Kopf und setzt eine Baseballkappe obendrauf? Das hilft bestimmt.«
»Mir ist auch heiß, Schätzchen.« Harry warf einen Blick auf die alten Bücher, die ihre Mutter bei den von ihr veranstalteten Büchereiverkäufen für sich reserviert hatte. »Ich weiß, was wir machen. Wir gehen in den Stall, stellen den kleinen Tisch aus der Sattelkammer in den Gang und denken, nach. Im Stall ist es im Moment am kühlsten.«
»Ist 'nen Versuch wert.« Murphy raste zu der Verandatür und stieß sie auf. Der Haken hing nutzlos da, weil die Ösenschraube schon längst verlorengegangen war.
Als sie in den Stall kamen, rauschte die Eule über ihre Köpfe hinweg. »Ihr zwei Idioten verderbt mir eine gute Jagdnacht.«
»Ekelpaket.« Mrs. Murphy plusterte ihr Fell auf.
Als Harry das Licht anknipste, steckte das Opossum den Kopf aus einem Plastik-Futtereimer. »He.«
»Keine Angst, Simon. Sie hat nichts dagegen. Wir stellen ein paar Nachforschungen an.« »Hier?«
»Zu heiß im Haus.«
»Man hat hier schon das Gefühl, als wär man in ein großes nasses Handtuch gewickelt. Im Haus muß es noch schlimmer sein«, pflichtete Simon ihr bei.
Harry, die von der lebhaften Unterhaltung zwischen ihrer Katze und dem Opossum nichts ahnte, trug den kleinen Tisch in den Gang, stellte einen Ventilator auf, griff zu Bleistift und ihrem linierten Block, setzte sich hin und fing an, Notizen zu machen. Hin und wieder schlug Harry sich auf den Arm oder den Nacken.
»Wieso stechen die Mücken mich und lassen dich in Ruhe?« fragte sie die Tigerkatze, die nach dem kritzelnden Bleistift schlug.
»Die können nicht durchs Fell. Euch Menschen fehlt es am wirksamsten Schutz. Dauernd macht ihr uns übrigen weis, das käme daher, weil ihr so hoch entwickelt seid. Irrtum. Adleraugen sind viel stärker entwickelt als eure. Meine übrigens auch. Reib dich mit Mückenschutz ein.«
»Ich wünschte, du könntest sprechen.«
»Ich kann sprechen. Du kannst bloß nicht verstehen, was ich sage.«
»Murphy, ich liebe es, wenn du mich anmaunzt. Ich wünschte auch, du könntest lesen.«
»Wie kommst du darauf, daß ich es nicht kann? Das Dumme ist, ihr schreibt meistens über euch selbst und nicht über andere Tiere, deswegen finde ich nur wenige Bücher, die mich interessieren. Tucker behauptet, sie kann lesen, aber bestimmt nicht fließend. Simon, kannst du lesen?«
»Nein.« Simon war zu einem anderen Futtereimer übergegangen, wo er sich am Frischfutter gütlich tat. Am liebsten mochte er die kleinen Maiskörner.
Harry führte alle Ereignisse auf, wie sie sie in Erinnerung hatte, angefangen mit Mike Hucksteps Auftritt in Ash Lawn.
Sie verzeichnete Uhrzeiten, das Wetter und alle zufällig anwesenden Personen.
Beginnend mit dem Vorfall in Ash Lawn, vermerkte sie, daß es heiß war. Laura Freely war für die Fremdenführerinnen verantwortlich gewesen: Marilyn Sanburne jr. Aysha Cramer, Kerry McCray. Susan Tucker hatte im Andenkenladen bedient. Danny Tucker hatte links vom Haus im Garten gearbeitet. Harry und Blair waren im Wohnzimmer.
Sie versuchte, sich an jede Einzelheit von jedem Vorgang zu erinnern, bis hin zu Little Marilyns Besuch bei ihr, als sie von Kerrys Bitte erzählte, ihr Geld zu leihen.
»Murphy, ich geb's auf. Es ist und bleibt unübersichtlich.«
Die Katze legte die Pfote auf den Bleistift, so daß Harry nicht weiterschreiben konnte. »Hör zu. Wer immer hinter der Sache steckt, kann nicht schlauer sein als du. Wenn die es aushecken konnten, kannst du dahinterkommen. Die Frage ist, wenn du dahinterkommst, bist du dann in Gefahr?«
Harry streichelte Murphy geistesabwesend, während die Katze versuchte, vernünftig mit ihr zu reden.
»Weißt du, ich war die halbe Nacht auf und hab Listen gemacht. Die sogenannten Fakten bringen mich nicht weiter. Wenn ich hier mit dir sitze, Murphy, ohne Pflichten, in vollkommener Ruhe, kann ich nachdenken. Wird Zeit, mich auf meine Instinkte zu verlassen. Mike Huckstep hat seinen Mörder gekannt. Er ist mit ihm tief in den Wald gegangen. Hogan Freely mag seinen Mörder gekannt haben oder auch nicht, aber der Mörder hat Hogan bestimmt gekannt, er wußte, daß er an dem Abend arbeitete, und hatte das Glück, die Bank unverschlossen zu finden, oder aber er - oder sie - hatte einen Schlüssel. Jeder von uns, der in Market Shifletts Laden war, wußte, daß Hogan in der Bank sein würde. Er hat es uns gesagt. Laura hat es gewußt, aber ich denke, sie können wir ausklammern. Ob er es sonst noch jemandem erzählt hat?«
»Der dichte Nebel ist dem Mörder zugute gekommen.« Mrs. Murphy konnte sich lebhaft an die Nacht erinnern.
Harry klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch. »War das ein geplanter oder ein impulsiver Mord?«
Harry schrieb ihre Gedanken nieder und wartete auf den Sonnenaufgang. Da Mrs. H. um sechs schon auf und beim Backen war, rief Harry sie an und bat ihre Freundin, sie für eine halbe Stunde zu vertreten. Sie müsse etwas im Büro des Sheriffs vorbeibringen.