Harry kam ans Ende des Ganges, wo Fair auf sie wartete. Er tat so, als würde er Holzkohle im Sonderangebot kaufen.
»Wie geht's?«
»Gut, und dir?«
»Ich krieg mehr Griffelbeinrisse zu sehen, als ich zählen kann. Zu viele Trainer überfordern ihre jungen Pferde auf diesem festen Boden.« Griffelbeinrisse sind bei jungen Rennpferden ein häufiges Problem.
Harry besaß drei Pferde; eins davon, noch ziemlich neu, war ein Geschenk von Fair und Mim. Mim hatte Harry seit neuestem in ihr Herz geschlossen. Tatsächlich schien die hochmütige Mrs. Sanburne in den letzten paar Jahren erheblich sanftmütiger geworden zu sein.
»Uns geht's richtig gut zu Hause. Komm doch mal vorbei, dann reiten wir den Yellow Mountain rauf.«
»Okay.« Fair nahm mit Freuden an. »Morgen sieht's schlecht aus, aber wie wär's mit übermorgen? Ich komm um sechs vorbei. Bis dahin dürfte es sich ein bißchen abgekühlt haben.«
»Prima. Welches Pferd willst du?«
»Gin Fizz.«
»Okay.« Sie wollte weiter; Katze und Hund waren bestimmt mürrisch vom langen Warten.
»He, ich hab gehört, du warst gestern mit Blair Bainbridge in Ash Lawn. Ich dachte, er ist gar nicht in der Stadt.« Fair betete, er möge bald wieder aus der Stadt verschwinden - am liebsten morgen.
»Er hat die Aufnahmen beendet, und anstatt bei seiner Familie vorbeizuschauen, ist er gleich nach Hause gekommen. Er ist ziemlich groggy, glaube ich.«
»Wie kann man groggy sein, wenn man sich Klamotten anzieht und vor der Kamera Pirouetten dreht?«
Harry weigerte sich, darauf einzugehen.
»Da bin ich nun wirklich überfragt, Fair, mich hat nie jemand gebeten, als Model zu arbeiten.« Sie schob weiter. »Dann bis übermorgen.«
4
»Holen Sie schon mal die Schaufeln raus«, rief Harry Mrs. Hogendobber zu, die im selben Moment zum Hintereingang hereinmarschierte, als Rob Collier, der Mann, der die Post anlieferte, das Postamt durch den Vordereingang verließ.
Er steckte den Kopf wieder herein. »Morgen, Mrs. H.«
»Schönen guten Morgen, Rob.« Sie erspähte die riesigen Postsäcke auf dem Fußboden. »Was um alles in der Welt.«
»Ein höllischer Auftakt in den August.«
Als der große Lieferwagen aus der Zufahrt fuhr, konnten die zwei Frauen nur wie gebannt auf den Haufen Post starren.
»Dann mal los. Ich hol den Postkarren und fang mit dem ersten Sack an.«
»Bin gleich wieder da.« Mrs. Hogendobber eilte zur Tür hinaus und war nach knapp fünf Minuten zurück; Zeit genug für Harry, den großen Leinensack auszukippen, und Zeit genug für Mrs. Murphy, sich mit Karacho in den Haufen zu stürzen, so daß Briefe und Zeitschriften umherstoben. Dann wälzte sie sich herum, zerbiß einige Umschläge und zerkratzte andere.
»Tod den Rechnungen!« brüllte die Katze. Sie breitete alle vier Pfoten auf dem schlüpfrigen Haufen aus, blickte nach rechts, dann nach links, bevor sie mit einem mächtigen Satz nach vorn sprang, so daß die Post unter ihr hervorquoll.
»Du hast es erfaßt, Murph.« Harry mußte über die Kapriolen der Tigerkatze lachen.
»Dies ist meine Meinung zur Elektrizitätsgesellschaft.« Sie packte mit den Zähnen eine Rechnung und biß fest zu. »Da hast du 's. Und das hier ist für alle Rechtsanwälte in Crozet. « Sie zog die rechte Pfote über eine Fensterscheibenrechnung und hinterließ fünf parallele Risse.
Tucker beteiligte sich an dem Spaß, aber da sie nicht so wendig war wie Mrs. Murphy, konnte sie nur durch den Postpacken rennen und rufen: »Guck mal, was ich kann!«
»Schluß jetzt, ihr zwei. Dies ist das einzige Postamt in Amerika, wo man Briefe mit Zahnabdrücken bekommt. Aber genug ist genug.«
Mrs. Hogendobber öffnete die Hintertür just in dem Moment, als Pewter durch das Katzentürchen hereinkam. »He, he, ich will auch mitspielen.«
Mrs. Murphy setzte sich in das Postchaos und lachte, als ihre dicke Freundin auf sie zugesaust kam. Mrs. Hogendobber lachte ebenfalls.
»Sehr komisch.« Erbost wand sich Pewter aus dem Haufen.
»Heute morgen sind alle übergeschnappt.« Harry bückte sich, um das Durcheinander zu ordnen, fand aber, daß die Katze die richtige Idee gehabt hatte. »Was ist das für ein unglaublicher Duft?«
»Zimtteilchen. Wir müssen uns stärken. Eigentlich wollte ich warten und sie für unsere Pause rüberholen, aber Harry, wir werden wohl durcharbeiten.« Sie sah auf die große alte Bahnhofsuhr an der Wand. »Und Mim wird in einer Stunde hier sein.«
»Mim wird noch mal wiederkommen müssen.« Harry warf Briefe in den Postkarren und schob ihn auf die Rückseite der Schließfächer. »Wenn Sie keinen Knüller auf Lager haben, machen Sie das Radio an.« Zwinkernd schnappte sich Harry ein heißes Zimtteilchen und begann mit dem Sortieren.
»Ich will mir heute morgen keine Country- und Western- Musik anhören.«
»Und ich möchte mich nicht geistlich erbauen lassen, Miranda.«
»Stellen Sie sich nicht so an.« Mrs. Hogendobber schaltete das Radio ein.
Der Sprecher verkündete die Nachrichten. ». ein Verlust von acht Millionen Dollar für dieses Geschäftsquartal, der schlimmste in der neunundsechzigj ährigen Geschichte der FI. Eintausendfünfhundert Beschäftigte, fünfundzwanzig Prozent der Belegschaft des renommierten Unternehmens, mußten entlassen werden...«
»Verdammt.« Harry pfefferte eine Postkarte in Market Shifletts Schließfach.
»Ich kann mir vorstellen, die Leute, die die blauen Briefe kriegen, sagen noch was viel Schlimmeres.«
Die Nachrichten wurden nach einem Werbespot für den neuen Dodge Ram fortgesetzt. Die tiefe Stimme tönte: »Threadneedle, der gefürchtete Computervirus, hat heute bereits am frühen Morgen zugeschlagen. Leggett's Warenhaus hat einige geringfügige Probleme gemeldet, ebenso die Spar- und Darlehenskasse von Albemarle County. Das ganze Ausmaß des Durcheinanders wird sich erst im Laufe des Arbeitstages erweisen. Doch es wurden bereits erste Unregelmäßigkeiten gemeldet.«
»Wissen Sie was, wenn irgend so ein Computergenie Amerika wirklich einen Dienst erweisen wollte, würde er oder sie das Finanzamt zerstören.«
»Wir zahlen zu viele Steuern, Harry, aber Sie entwickeln sich langsam zu einer Anarchistin.« Miranda wischte etwas Vanilleglasur von ihren Lippen, die heute leuchtend korallenrot geschminkt waren, passend zu ihren quadratischen korallenroten Ohrringen. Mrs. Hogendobber kleidete sich gern adrett, im Stil der fünfziger Jahre.
»Alles in allem zehn Prozent, wenn man mehr als hunderttausend verdient, und fünf Prozent, wenn man weniger verdient. Wer unter fünfundzwanzigtausend im Jahr verdient, sollte keine Steuern zahlen müssen. Wenn wir das Land damit nicht stützen können, sollten wir es vielleicht besser umstrukturieren - wir werden langsam zu einem Dinosaurier, genau wie FI. Zu groß, um zu überleben. Wir stolpern über unsere eigenen Riesenquanten.«
Mrs. Hogendobber kippte den nächsten Sack aus. »Ich weiß nicht, aber ich stimme Ihnen zu, daß bei uns der Wurm drin ist. Oh, was will sie denn hier?« Sie sah Kerry McCray durch die Tür kommen.
»Hoffentlich brauchen Sie Ihre Post noch nicht«, rief Mrs. Hogendobber hinaus.
»Die hab ich sowieso zerrissen.« Mrs. Murphy leckte sich die Lippen.
»Echt?« Pewter war beeindruckt.
»Klar, hier.« Mrs. Murphy schob ein Couvert herüber, das deutliche Spuren von Reißzähnen aufwies.
»Wetten, das ist ein Staatsvergehen«, bemerkte die graue Katze weise.
»Das will ich hoffen«, erwiderte Mrs. Murphy frech.
»Ich bin nicht wegen der Post hier«, sagte Kerry. »Wollte bloß Bescheid sagen, daß Samstag abend in der Opernreihe in Ash Lawn Don Giovanni gegeben wird und daß Sie unbedingt kommen müssen. Der Sänger der Hauptpartie hat eine so klare Stimme. Ich verstehe nicht soviel von Musik wie Sie, Mrs. Hogendobber, aber er ist gut.«