Mitten im unwegsamen Dschungel Mittelamerikas schufen die Maya die fortschrittlichste Kultur der Neuen Welt.
Eine ihrer herausragendsten Leistungen war ein kompliziertes Kalendersystem, dessen Genauigkeit selbst heutige Astronomen in Erstaunen versetzt. Es gründete sich auf der Vorstellung, dass die Menschheitsgeschichte aus vier Zeitaltern besteht.
Einigen Deutungen zufolge markiert eine gewaltige Naturkatastrophe das Ende eines jeden Zeitabschnitts; auf die Zerstörung folgt der Neubeginn, und die Welt entsteht von Neuem.
Der vierte Zeitabschnitt begann am 11. August 3114 v. Chr.
Und er endet am 21. Dezember 2012.
PROLOG
Er drückt sich im Mondlicht an die Mauer des Tempels, das in Sisal gewickelte kleine Bündel unter dem Arm an sich gepresst. Der raue Stoff kratzt auf seiner Haut, doch er genießt das Gefühl. Es hat etwas Beruhigendes. Er würde das Bündel gegen nichts eintauschen in dieser von der Dürre heimgesuchten Stadt, nicht einmal gegen Wasser. Der Boden unter seinen Sandalen ist ausgedörrt und von tiefen Rissen durchzogen. Die grüne Welt seiner Kindheit ist verschwunden.
Froh, dass die wenigen noch verbliebenen Tempelwächter ihn nicht bemerkt haben, eilt er zum großen Platz in der Mitte der Stadt, wo früher Handwerker und Körperbemaler ihren Geschäften nachgegangen waren. Heute treiben sich nur noch Bettler hier herum, und Bettler können gefährlich sein, wenn sie hungrig sind. Aber er hat Glück. Nur zwei Männer stehen am östlichen Tempel. Sie kennen ihn, sie wissen, dass er ihnen jedes Mal so viel gibt, wie er kann. Dennoch drückt er sein Bündel fester an sich.
Am Rande des Dorfplatzes, zu den Maisspeichern hin, ist ein Wächter postiert, ein halbes Kind noch. Der Mann spielt mit dem Gedanken, sein Bündel zu vergraben und später wiederzukommen, um es zu holen, aber der Boden besteht nur aus Staub, und wo einmal Bäume standen, weht der Wind heute ungehindert über die Felder. Nichts bleibt in dieser verdorrten Stadt lange von Erde bedeckt.
Er holt tief Luft und geht weiter.
»Wohin des Wegs, königlicher heiliger Mann?«, ruft der blutjunge Wächter. Seine Augen sind müde und hungrig, aber ein gieriges Glitzern glimmt in ihnen auf, als er das unter den Arm geklemmte Bündel erblickt.
»Ich will zu meiner Fastenhöhle«, antwortet der Mann wahrheitsgemäß.
»Was hast du da bei dir?«
»Weihrauch für die Götter.«
Der Mann presst sein Bündel fester an sich und schickt ein stilles Gebet zu Itzamnaaj.
»Auf dem Markt gibt es seit Tagen keinen Weihrauch mehr zu kaufen, königlicher heiliger Mann«, erwidert der Wächter mit matter Stimme. Als ob alle Menschen nur noch lügen würden, um zu überleben. Als ob mit dem Regen auch die Unschuld verloren gegangen wäre. »Gib mir das Bündel.«
»Du hast recht, Krieger. Das ist kein Weihrauch. Es ist ein Geschenk für den König.«
Er hat keine andere Wahl, er muss den König ins Spiel bringen, auch wenn dieser ihm das Herz herausreißen lassen würde, wenn er wüsste, was er da bei sich trägt.
»Gib mir das Bündel«, wiederholt der junge Wächter.
Der Mann zögert, gehorcht dann aber. Mit ungeschickten Fingern nestelt der Junge an dem Stoff herum, aber als er den Sisal zurückgeschlagen hat, bemerkt der Mann den enttäuschten Ausdruck in seinen Augen. Was hatte er zu finden gehofft? Mais? Kakao? Er hat keine Ahnung, was er da gesehen hat. Wie die meisten Jungen heutzutage kennt er nur noch Hunger.
Der Mann wickelt sein Bündel hastig wieder ein und hastet weiter. Im Stillen dankt er den Göttern für sein Glück. Schließlich erreicht er die kleine Höhle am östlichen Rand der Stadt und schlüpft unbemerkt hinein.
Es ist schon alles vorbereitet. Auf dem Boden der Höhle sind Tücher ausgebreitet. Der Mann zündet eine Kerze an und legt sein Bündel in sicherem Abstand zu der Flamme nieder. Dann wischt er sich sorgfältig die Hände ab. Er kniet sich hin, greift nach dem Bündel und wickelt einen Stoß gefaltetes Papier aus dem Sisal. Das Papier ist aus der Rinde eines Feigenbaums hergestellt und mit einer dünnen Schicht Kalksteinpaste überzogen worden, um ihm Festigkeit zu verleihen. Mit der Sorgfalt und der Mühelosigkeit eines Mannes, der sich sein ganzes Leben auf diese Handlung vorbereitet hat, zieht er den Stapel auseinander. Fünfundzwanzig Mal ist das Papier gefaltet worden, und als der leere Bogen vollständig ausgebreitet ist, reicht er von einer Seite der Höhle zur anderen.
Hinter der Feuerstelle stehen drei kleine Gefäße mit Farbe bereit. Für die Herstellung der schwarzen Tinte hat er den Ruß von Töpfen gekratzt, das Rot hat er aus Rostpilzen gewonnen, die er von Felsen geschabt hat, und selbst gesammelte Indigopflanzen und den Lehm ausgetrockneter Flussbetten hat er zu einem satten Blau verarbeitet. Zuletzt ritzt er sich die Haut am Arm auf. Er schaut zu, wie scharlachrote Tröpfchen über sein Handgelenk rinnen und in die Gefäße mit Farbe tropfen. Sein Blut heiligt die Tinte.
Dann beginnt er zu schreiben.
12.19.19.17.09 – 11. DEZEMBER 2012
1
Dr. Gabriel Stantons Zuhause befand sich ganz am Ende der hölzernen Promenade, dort wo der Fußweg in eine üppig grüne Rasenfläche überging, auf der sich die Freunde des Tai-Chi trafen. Die bescheidene Doppelhaushälfte gegenüber dem Strand von Venice Beach war nicht unbedingt nach Stantons Geschmack. Er mochte lieber geschichtsträchtigere Gebäude. Aber an diesem eigenwilligen Abschnitt der kalifornischen Küste hatte man nur die Wahl zwischen heruntergekommenen Bruchbuden und modernen Bauten aus Stein und Glas. Stanton verließ das Haus kurz nach sieben Uhr morgens und radelte auf seinem alten Gary-Fisher-Rad Richtung Süden. Dogma, sein hellhaariger Labrador, rannte neben ihm her. Groundwork, wo es den besten Kaffee von L.A. gab, war nur sechs Straßen entfernt, und Jillian würde schon einen kräftigen Black Gold für ihn bereithalten, wenn er durch die Tür trat.
Dogma liebte die Morgenstunden ebenso sehr wie sein Herrchen. Aber da Hunde nicht mit ins Café durften, band Stanton ihn draußen an und ging dann allein hinein. Er winkte Jillian zu, schnappte sich seinen Becher und ließ den Blick prüfend durch den Raum schweifen. Viele der morgendlichen Gäste waren Surfer, von deren Neoprenanzügen noch das Wasser tropfte. Stanton stand normalerweise um sechs Uhr auf, aber diese Jungs waren schon seit Stunden wach.
Einer der bekanntesten und sicherlich originellsten Anwohner der Strandpromenade saß an seinem Stammplatz. Sein kahl geschorener Kopf war vollständig mit komplizierten Mustern tätowiert, und Ohrläppchen, Nase und Lippen waren mit Ringen, Nieten, kleinen Ketten gepierct. Stanton fragte sich nicht zum ersten Mal, wo Monster wohl herkommen mochte. Welche Erlebnisse in seiner Jugend hatten ihn dazu bewogen, seinen Körper zu einem derartigen Kunstwerk zu machen? Aus irgendeinem Grund sah Stanton immer ein halbgeschossiges Haus nahe einem Truppenstandort vor sich, wenn er sich Monsters Kindheit vorstellte – genau die Art Haus, die er aus seiner eigenen Kindheit nur allzu gut kannte.
»Und, was gibt’s Neues in der Welt da draußen?«, fragte Stanton.
Monster schaute von seinem Computer auf. Er war geradezu süchtig nach Nachrichten, und wenn er nicht in seinem Tattoo-Laden arbeitete oder sich als Teil der Venice Beach Freak Show von Touristen bestaunen ließ, postete er Kommentare in politischen Blogs.
»Du meinst, abgesehen davon, dass in zwei Wochen eine kosmische Konstellation dafür sorgen wird, dass die magnetische Ladung an den Polen sich umkehren wird, was den sicheren Untergang der Menschheit bedeutet?«
»Ja, davon einmal abgesehen.«
»Ein verdammt schöner Tag da draußen.«
»Und deine Lady?«
»Elektrisiert mich noch immer, danke der Nachfrage.«