»Mom, was machst du denn hier?«
Ha’ana hielt ein paar Stofftaschen in die Höhe. »Dir das Abendessen kochen, weißt du nicht mehr? Willst du mich nicht endlich hereinbitten oder soll ich noch länger in dieser Kälte herumstehen?«
Über den aufwühlenden Ereignissen des Tages hatte Chel ihre Verabredung zum Abendessen vollkommen vergessen.
»Früher war es ordentlicher hier«, bemerkte Ha’ana, als sie eintrat und sah, in was für einem Zustand das Haus war. »Als Patrick noch da war.«
Patrick. Natürlich. Das musste ja kommen. Chel war fast ein Jahr mit Patrick zusammen gewesen. Dann hatten sie sich getrennt, aus Gründen, die so kompliziert waren, dass Chel nie mit ihrer Mutter darüber gesprochen hatte. Aber Ha’ana hatte recht: Seit er vor vier Monaten ausgezogen war, hatte Chel ihr Haus unweit des Campus der University of California praktisch nur noch als Zwischenstation benutzt auf dem Weg von ihrem Büro in der Universität zum Getty Museum. Wenn sie nach einem anstrengenden Tag abends nach Hause kam, zog sie sich oft einfach nur aus und ließ sich vor den Fernseher fallen, wo eine Sendung des Discovery Channel lief, und schlief ein.
»Willst du mir nicht helfen?«, rief Ha’ana aus der Küche.
Chel ging zu ihr und packte die Einkaufstaschen aus. Seit einiger Zeit hatte Ha’ana Rückenschmerzen, die sie in ihrer Beweglichkeit einschränkten. Und obwohl Chel nicht die geringste Lust hatte, sich zum Essen hinzusetzen, schaffte sie es nicht, Nein zu sagen zu ihrer Mutter. Das konnte sie noch nie.
Das Abendessen war eine aus vier verschiedenen Käsesorten und Spinat und viel Knoblauch zusammengemischte Lasagne. Als Kind hatte Chel ihre Mutter kaum je einmal dazu bewegen können, Speisen aus der Heimat ihrer Vorfahren zu kochen. Stattdessen war sie mit Makkaroni und Weißbrotsandwiches vollgestopft worden. Mittlerweile sah sich Ha’ana fast ununterbrochen irgendwelche Kochsendungen an, und ihre Kochkünste hatten Fortschritte gemacht. Während sie aßen, starrte Chel abwesend auf ihren Teller. Ihre Mutter erzählte von ihrer Arbeit in der Fabrik. Chel hörte kaum hin. Sie war mit den Gedanken ganz woanders: bei der Handschrift im Zimmer nebenan.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Sie blickte auf und sah, dass Ha’ana sie prüfend betrachtete.
»Ja, ja, alles in Ordnung, Mom.« Sie streute Paprikapulver über ihre Lasagne. »Weißt du, ich bin schon ganz aufgeregt, dass du nächste Woche in meinen Unterricht kommst.«
»Oh, das habe ich dir ja noch gar nicht gesagt. Ich kann nicht kommen. Tut mir leid.«
»Und warum nicht?«
»Ich habe auch einen Job, Chel.«
Ha’ana hatte in dreißig Jahren kaum einen Tag gefehlt. »Wenn du deiner Chefin sagst, warum du nicht kommen kannst, hat sie bestimmt nichts dagegen. Im Gegenteil, sie wird wollen, dass du kommst. Ich kann mit ihr reden, wenn du willst.«
»Ich habe an dem Tag eine Doppelschicht.«
»Mom, ich habe meinen Studenten so viel über die Geschichte des Dorfes erzählt, sie wären sicher begeistert, wenn sie mit jemandem sprechen könnten, der tatsächlich in Kiaqix gelebt hat.«
Ha’ana nickte. »O ja, irgendjemand muss ihnen unbedingt alles über unser unglaubliches Gründertrio erzählen.« Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Viele Mythen und Legenden rankten sich um Beya Kiaqix, das winzige Dorf, in dem Ha’ana und Chel geboren worden waren. Der Sage nach war der Ort von einem Adligen und dessen beiden Ehefrauen gegründet worden, die vor der Herrschaft eines tyrannischen Königs geflohen waren. Seitdem hatten mehr als fünfzig Generationen von Chels Familie im Tal des scharlachroten Ara gelebt, im Bezirk Petén im nördlichen Guatemala.
Chel und ihre Mutter gehörten zu den wenigen, die von dort weggegangen waren. Als Chel zwei Jahre alt war, befand sich die revolutionäre Bewegung im vom Bürgerkrieg erschütterten Guatemala, dem längsten und blutigsten in der Geschichte Mittelamerikas, auf dem Höhepunkt. Aus Angst um ihre Tochter und um sich selbst war Ha’ana aus Kiaqix geflohen und in die Vereinigten Staaten emigriert. Das war dreiunddreißig Jahre her. Ha’ana hatte Arbeit gefunden und sich selbst Englisch beigebracht. Als ihre Tochter vier Jahre alt war, hatte Ha’ana ihre Arbeitserlaubnis in der Tasche, und es dauerte nicht lange, bis beide die amerikanische Staatsbürgerschaft bekamen.
»Na, dann kannst du ihnen ja alles darüber erzählen«, erwiderte Chel trocken.
»Du kennst die Sagen von Kiaqix genauso gut wie ich, Chel«, sagte Ha’ana und schob sich eine Gabel voll Lasagne in den Mund. »Du brauchst mich nicht.«
Ha’ana hatte es immer schon nach Kräften vermieden, über die Vergangenheit zu reden. Selbst wenn Chel einen Weg gefunden hätte, ihr zu beweisen, dass jedes Wort der überlieferten Geschichte ihres Dorfes stimmte, hätte sich Ha’ana darüber lustig gemacht. Chel hatte schon vor vielen Jahren begriffen, dass das Ha’anas Art war, die traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit zu bewältigen.
Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte die uralte Handschrift aus dem Versteck geholt und sie ihrer Mutter in den Schoß gelegt. Nicht einmal Ha’ana hätte sich ihrer Magie entziehen können.
»Wann hast du das letzte Mal ein Buch in der Sprache deiner Vorfahren gelesen?«, fragte Chel.
»Warum sollte ich das tun, wo ich doch so viel Zeit darauf verwendet habe, Englisch zu lernen?«, entgegnete ihre Mutter. »Außerdem sind in letzter Zeit keine guten Kriminalromane in Qu’iche veröffentlicht worden, soweit ich weiß«, fügte sie spöttisch hinzu.
»Mom, du weißt genau, was ich meine. Ich rede nicht von modernen Büchern. Ich rede von uralten Texten. Von Büchern wie dem Popol Vuh.«
Ha’ana verdrehte die Augen. »Ich habe neulich in einer Buchhandlung tatsächlich eine Ausgabe des Popol Vuh gesehen. Gleich neben diesem ganzen Unsinn vom Weltuntergang im Dezember 2012. Großmäulige Affen und blumengeschmückte Götter – das ist alles, was man in der Sprache der Maya bekommt.«
Chel schüttelte den Kopf. »Vater hat seine Briefe doch auch in Qu’iche geschrieben, Mom.«
1979, zwei Jahre, nachdem Chel auf die Welt gekommen war, war ihr Vater ins Gefängnis geworfen worden. Die Militärs warfen ihm vor, er sei Mitglied der revolutionären Bewegung und habe die Bewohner von Kiaqix gegen die Regierung aufgewiegelt. Alvar Manu gelang es, Briefe aus dem Gefängnis zu schmuggeln, in denen er sein Dorf beschwor, sich niemals zu ergeben. Ha’ana hatte seine Botschaften an ein paar Dutzend Dorfälteste in ganz Petén weitergeleitet und so dafür gesorgt, dass sich die Zahl der Freiwilligen, die sich den Aufständischen anschlossen, innerhalb weniger Wochen verdoppelte. Doch mit den Briefen hatte Chels Vater sein Todesurteil unterschrieben: Als die Wärter dahinterkamen, wurde er ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet.
»Warum müssen wir immer wieder davon anfangen?« Ha’ana stand auf und begann den Tisch abzuräumen.
Chel seufzte frustriert. Sie liebte ihre Mutter, und sie würde ihr immer dankbar sein für alles, was sie für sie getan hatte. Aber ganz tief drinnen wurde sie das Gefühl nicht los, dass Ha’ana ihr Volk verraten hatte, als sie geflohen war, und dass sie deshalb auch nicht an die Vergangenheit erinnert werden wollte. Es wäre sinnlos, ihr die Handschrift zu zeigen. Solange Chel die Bedeutung der Zeichen nicht entziffert hatte, würde Ha’ana nur verrottende Baumrinde sehen und sonst gar nichts.
Chel erhob sich ebenfalls. »Lass das Geschirr stehen.«
»Wieso, das ist doch schnell gespült. Sonst türmt es sich am Ende noch so wie alles hier im Haus.«