Chel atmete tief durch. »Ich muss noch mal weg, Mom.«
Ha’ana drehte sich um. »Weg? Wohin?«
»Ins Museum.«
»Jetzt? Um neun Uhr abends? Was für ein Job ist das denn?«
»Danke für das Abendessen, Mom, aber ich muss jetzt wirklich los.«
»In Kiaqix wäre das eine Beleidigung«, erwiderte Ha’ana. »Wenn eine Frau für einen gekocht hat, schickt man sie danach nicht weg.«
Wenn es ihr gelegen kam, führte Ha’ana gern die alten Bräuche an, über die sie sich sonst nur lustig machte.
»Na, dann ist es ja gut, dass wir nicht mehr in Kiaqix sind«, versetzte Chel.
***
Im Lauf der vergangenen acht Jahre hatte Chel eine hochmoderne Forschungsabteilung für mesoamerikanische Kulturen im einstmals konservativsten Museum Kaliforniens eingerichtet. Wenn sie nach der Arbeit noch ein bisschen Zeit hatte, schlenderte sie gern durch die leeren Säle, vorbei an van Goghs Schwertlilien oder an Pontormos Der Hellebardier. Sie musste jedes Mal schmunzeln, wenn sie sich vorstellte, wie der Großindustrielle, Ölmagnat und Multimilliardär Paul Getty wohl reagiert hätte, wenn er die Tonfiguren von knienden, zu ihren Göttern betenden Mayas und die Darstellungen mesoamerikanischer Gottheiten neben seinen geliebten europäischen Kunstwerken gesehen hätte.
Doch an diesem Abend war ihr die Lust zu schmunzeln vergangen. Es war kurz nach zwei Uhr nachts, und sie stand, umgeben von hochauflösenden Kameras, Massenspektrometern und Instrumenten zur Konservierung antiker Gegenstände, neben Dr. Rolando Chacon, ihrem erfahrensten Experten für die Restaurierung von Antiquitäten, im Forschungslabor 214 A. Normalerweise lagen Jadeklumpen, Tonzeug, alte Masken auf den langen aneinandergereihten Holztischen, aber jetzt hatten sie im hinteren Teil des Raumes auf einigen davon Platz gemacht und die Handschrift darauf ausgebreitet. An den Wänden hingen Fotografien von Maya-Ruinen, die sie bei Ausgrabungen gemacht hatte – stille Erinnerungen an die emotionale Achterbahnfahrt, die stets mit der Rückkehr in die Heimat ihrer Familie verbunden war.
Chel und Rolando trennten die Blätter der alten Handschrift vorsichtig mithilfe von Spatellöffeln und hoben sie dann mit langen Pinzetten Stück für Stück behutsam aus der Holzkiste, um sie auf Glastische zu legen, die von unten beleuchtet wurden. Manche Fragmente waren nur so groß wie eine Briefmarke, aber auch diese waren aus dem festen Papier, das aus der Rinde von Feigenbäumen hergestellt wurde und das durch Schmutz und Feuchtigkeit noch schwerer geworden war.
Die Arbeit dauerte Stunden. Danach begannen sie mit dem Entziffern des Textes. Obwohl sie bisher gerade einmal den obersten Teil der ersten Seite geschafft hatten, hatten der Ruhm und die Herrlichkeit ihrer Vorfahren Chel schon ganz in ihren Bann geschlagen. Die ersten Worte schienen den Regen und die Sterne zu beschwören, ein Gebet, das sie wie durch Zauberei in eine andere Welt versetzte.
»Das heißt also, dass wir nachts daran arbeiten müssen?«, fragte Rolando. Er war eine Bohnenstange, über eins achtzig groß und dünn, und er hatte sich seit mindestens einer Woche nicht mehr rasiert, wie man an den dunklen Stoppeln auf Gesicht und Hals erkennen konnte.
»Du kannst ja tagsüber schlafen«, versetzte Chel ungerührt. »Tut mir leid für deine Freundin.«
»Hoffentlich merkt sie überhaupt, dass ich nicht da bin. Na ja, vielleicht wird das Geheimnisvolle ein bisschen Schwung in unsere Beziehung bringen. Und du? Wann schläfst du?«
»Irgendwann. Ich habe niemanden, der bemerken würde, dass ich weg bin.«
Rolando legte ein weiteres Fragment behutsam auf der Glasplatte ab. Chel kannte niemanden, der so viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit zerbrechlichen Objekten hatte oder einen besseren Instinkt bei der Rekonstruktion antiker Gegenstände. Chel vertraute ihm. Er gehörte länger zu ihrem Team als irgendjemand sonst, und er war immer loyal gewesen. Es war ihr nicht recht, dass sie ihn in Gefahr brachte, aber sie brauchte seine Hilfe.
»Wär’s dir denn lieber, wenn ich jemand anderen hinzuziehen würde?«, fragte Chel.
»Verdammt, nein!«, antwortete Rolando. »Ich bin doch dein einzig wahrer ladino, und ich lasse nicht zu, dass du diese Bombe ohne mich hochgehen lässt.«
Mit ladino wurden in der Umgangssprache die sieben Millionen Nachkommen der Spanier in Guatemala bezeichnet. Chel hatte ihr Leben lang von ihrer Mutter zu hören bekommen, wie die ladinos den vom Militär begangenen Völkermord an den Indios unterstützt hatten und wie sie die indígenas für ihre wirtschaftliche Misere verantwortlich machten. Trotz der immer noch bestehenden Spannungen zwischen den beiden Gruppen hatte die langjährige enge Zusammenarbeit mit Rolando dazu geführt, dass Chel die Dinge ein wenig differenzierter sah. Während der Revolution hatte sich Rolandos Familie für die Indios eingesetzt. Sein Vater war einmal sogar verhaftet worden wegen seines Engagements. Nicht lange danach war er mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten ausgewandert.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Fund aus einer der größeren Ruinen stammt«, murmelte Rolando, während er das Fragment hin und her drehte, bis er das passende Anschlussstück gefunden hatte.
Die über sechzig bekannten Maya-Ruinen aus der klassischen Periode in Guatemala, Honduras, Mexiko, Belize und El Salvador waren das ganze Jahr über voller Archäologen, Touristen und Einheimischen. Keine idealen Bedingungen für Plünderer, auch wenn sie noch so gerissen waren. Daher vermutete Chel, dass die Handschrift aus einer bislang unentdeckten Stätte stammte. Jedes Jahr wurden rein zufällig vom Dschungel überwucherte Ruinen entdeckt: von Satelliten, Hubschraubertouristen, Holzfällern. Der Plünderer, wahrscheinlich ein professioneller Schatzsucher, musste die antike Stätte durch einen solchen Zufall gefunden haben und dann mit einem Team wiedergekommen sein.
»Glaubst du, der Plünderer könnte auf eine versunkene Stadt gestoßen sein?«, fragte Rolando.
Chel zuckte die Achseln. »Jedenfalls werden die Leute das glauben wollen.«
Rolando lächelte. »Und überall in Guatemala werden die indígenas sie als ihre eigene beanspruchen.«
In vielen Indiodörfern wurden Geschichten überliefert, die von einer sagenhaften versunkenen Stadt erzählten, in der die jeweiligen Vorfahren einst gelebt hatten. Während der Revolution hatte ein Cousin von Chels Vater sogar einmal behauptet, er habe die versunkene Stadt von Kiaqix entdeckt, jene Stadt, aus der die drei ursprünglichen Gründer angeblich geflüchtet waren. Doch die Wirklichkeit war keineswegs so aufregend: Die Maya hatten zu einem großen Teil immer schon in kleinen Dörfern im Dschungel gelebt. Sich auf eine Verbindung zu einer versunkenen Stadt zu berufen war für die Menschen aus Chels Volk in etwa so, wie wenn ein weißer Amerikaner behaupten würde, einer seiner Vorfahren sei auf der Mayflower nach Amerika gekommen: Das konnte man zwar leicht sagen, aber nur schwer beweisen.
»Schön, ich frage dich also nicht noch mal, wo du das herhast«, sagte Rolando, während er ein weiteres Fragment anfügte, »aber wenn ich mir die Ikonografie ansehe, würde ich sagen, es ist Ende der klassischen Periode entstanden. So zwischen 800 und 925? Unglaublich.«
Chel nickte. »Ich bin gespannt, was die Karbondatierung ergibt.«
Rolando legte seine Pinzette weg. »Ich weiß, die Sache muss geheim bleiben, aber … die Syntax ist über weite Strecken verdammt kompliziert. Wir könnten Victor dringend brauchen. Keiner kennt sich damit besser aus als er.«
Der Gedanke war Chel auch schon gekommen. Als sie die Handschrift sah, hätte sie Victor Granning am liebsten sofort angerufen, aber sie fürchtete sich vor seiner Reaktion. Sie hatten seit Monaten keinen Kontakt gehabt, und Chel hatte allen Grund, ihm aus dem Weg zu gehen. »Wir schaffen das auch allein«, erwiderte sie.