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Chel nickte zerstreut. Sie versuchte sich vorzustellen, was sie noch auf diesen Blättern finden würden. Inwieweit die Handschrift Fragen beantworten würde, auf die sie bisher keine Antwort gefunden hatten. Sie malte sich schon aus, wie sie der Welt eines Tages diesen Kodex präsentieren würde.

»Wenn wir beweisen könnten, dass der Untergang eine Folge von Dürreperioden gigantischen Ausmaßes war, könnten wir auch diesen Generälen endlich das Maul stopfen«, fügte Rolando hinzu.

Der Gedanke jagte einen Adrenalinstoß durch Chels Adern. Seit drei Jahren gab es wieder Spannungen zwischen ladinos und indígenas. Bürgerrechtler waren ermordet worden, und dieselben, die für den Tod von Chels Vater verantwortlich waren, hatten weitere Verbrechen begangen. Sogar auf der politischen Bühne war der Untergang der Maya als Argument gegen die Indios angeführt worden: Die Maya seien Wilde, die schon einmal ihre Umwelt zerstört hätten und die das wieder tun würden, wenn man ihnen ihr kostbares Land überließe.

Konnte diese Handschrift ein für alle Mal beweisen, dass dem nicht so war?

In Chels Büro im rückwärtigen Teil des Labors klingelte das Telefon. Sie schaute auf die Uhr. Kurz nach acht Uhr morgens. Höchste Zeit, den Kodex zusammenzupacken und in der Stahlkammer einzuschließen. Bald würden die ersten Angestellten kommen, und sie konnten nicht riskieren, dass irgendjemand Fragen stellte.

»Ich geh schon«, sagte Rolando.

»Ich bin nicht da«, rief Chel ihm nach. »Du hast keine Ahnung, wann ich wieder da bin.«

Als Rolando eine Minute später zurückkam, lag ein seltsamer Ausdruck auf seinem Gesicht. »Das war ein Dolmetscherdienst von einem Krankenhaus.«

»Und?«

»Die haben dort einen Patienten, der vor drei Tagen eingeliefert wurde, und kein Mensch kann ihn verstehen. Jetzt haben sie irgendwie rausgekriegt, dass er Qu’iche spricht.«

»Sag ihnen, sie sollen später in der Kirche anrufen«, erwiderte Chel. »Dort findet sich bestimmt jemand, der dolmetschen kann.«

»Das wollte ich ja. Aber dann meinten sie noch, der Patient wiederholt immer wieder ein Wort, wie eine Art Mantra.«

»Was für ein Wort?«

»Wuj.«

12.19.19.17.10 – 12. DEZEMBER 2012

5

Die Gentests wurden im Zentrum für Prionenforschung noch einmal durchgeführt. John Does Hirnstromkurve, seine Laborwerte und die Aufnahmen der Kernspintomografie wurden von den Experten im Seuchenzentrum in Atlanta genauestens unter die Lupe genommen. Nach zahllosen Konferenzschaltungen und Debatten, die die ganze Nacht dauerten, waren alle Ärzte der gleichen Meinung wie Stanton: Der Patient litt an einer neuen Variante der Prionenkrankheit und musste sich durch verseuchtes Fleisch infiziert haben.

Draußen war es gerade hell geworden, als Stanton und sein Stellvertreter Alan Davies die Ergebnisse noch einmal zusammenfassten. Die beiden Männer hatten sich in Stantons Büro im Zentrum für Prionenforschung zurückgezogen. Davies, ein hervorragender Arzt, stammte aus England und hatte jenseits des Atlantik jahrelang über den Rinderwahnsinn geforscht.

»Ich habe gerade mit dem Landwirtschaftsministerium telefoniert«, sagte Davies. Das USDA war nicht nur zuständig für die Landwirtschaft, sondern auch für Ernährung und Lebensmittelkontrolle. »Keine positiven Prionentests bei den großen Fleischverpackungsfirmen. Nichts Verdächtiges bei den Rindermastbetrieben oder bei den Futtermittelherstellern.«

Davies trug einen dreiteiligen Nadelstreifenanzug und hatte das Jackett ausgezogen. Seine langen braunen Haare waren so perfekt frisiert, dass man hätte glauben können, er trüge ein Toupet. Er war die einzige »Laborratte«, die Stanton kannte, die einen Anzug trug. Das war Davies’ Art, den Amerikanern zu zeigen, wie viel kultivierter ihre britischen Verwandten waren.

»Ich will mir die Tests selbst ansehen«, sagte Stanton müde und rieb sich die Augen. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten vor Erschöpfung.

»Das sind ja nur die großen Betriebe«, meinte Davies. »Die Leute können nicht jede kleine Farm überprüfen, auch wenn sie ein ganzes Jahr Zeit hätten. Ganz zu schweigen von den Schaffarmen und den Schweinemastbetrieben. Irgendwo da draußen verarbeitet irgend so ein leichtsinniger Idiot immer noch das Hirn oder weiß der Teufel was von Schlachttieren und liefert es Gott weiß wohin.«

Das Entscheidende bei jeder lebensmittelbedingten Erkrankung war, den Infektionsherd ausfindig zu machen. Gemüse, das mit Escherichia coli verseucht war, musste zurückverfolgt werden bis zu den Gemüsebauern, die es angebaut hatten, damit die Betriebe geschlossen und die Ware aus dem Handel genommen werden konnte. Mit Salmonellen belastete Eier mussten bis in den Hühnerstall zurückverfolgt werden, von dem sie stammten, damit die Verbraucher vor dem Verzehr der bereits in den Handel gelangten Eier gewarnt werden konnten. Das rasche Aufspüren des Infektionsherds konnte darüber entscheiden, ob es ein Opfer gab oder Tausende.

Doch Stanton und sein Team wussten nicht einmal, auf welche tierische Quelle sie sich konzentrieren sollten. Da die Prionen von Rindern nachweislich auf andere Spezies übertragen werden konnten, waren sie die Hauptverdächtigen. Aber die Prionen von Schweinen waren denen von Rindern auffallend ähnlich. Und eine Prionenkrankheit namens Scrapie hatte in Europa mehrere Hunderttausend Schafe getötet. Stanton hatte schon lange die Befürchtung, dass eines Tages mutierte Prionen auch von Schafen auf den Menschen übertragen werden könnten.

Die eigentliche Arbeit begann jedoch, sobald sie herausgefunden hatten, was genau John Doe krank gemacht hatte. Durch die unnatürliche Art und Weise, wie Fleisch verarbeitet und verpackt wurde, konnte das Fleisch eines einzigen Tieres in unzähligen Produkten auftauchen und über die ganze Welt verteilt werden. Stanton hatte Fleisch von ein und derselben Kuh in Hackfleisch in Columbus, Ohio, gefunden und in Hamburgern in Düsseldorf.

»Unsere Leute sollen alle Krankenhäuser in der Stadt überprüfen«, sagte er. Eine Prionenerkrankung war schwer zu diagnostizieren, und Stanton war sich ziemlich sicher, dass John Doe nicht der einzige Fall bleiben würde. »Sie sollen auf ungewöhnliche Fälle von Insomnie achten. Oder auf Patienten mit anderen ungewöhnlichen Symptomen. Und frag bei den Notfallpsychologen nach, ob jemand mit auffälligem Verhalten oder mit Wahnvorstellungen zu ihnen gekommen ist.«

Davies lächelte verzagt. »Das wär dann wohl jeder Einwohner von L.A.« Sich über die Südkalifornier lustig zu machen war sein zweitliebster Zeitvertreib nach der sorgfältigen Auswahl seiner Kleidung.

»Sonst noch was?«, fragte Stanton.

»Cavanagh hat angerufen.«

Da das Zentrum für Prionenforschung dem Seuchenzentrum angegliedert war, war Emily Cavanagh, die Stellvertretende Direktorin, Stantons Vorgesetzte. Sie war bekannt für ihre geradezu übernatürliche Ruhe, nahm andererseits aber auch nichts auf die leichte Schulter. Sie wusste um die potenziellen Gefahren einer Prionenerkrankung. Stanton hatte sich mit zahllosen Leuten in Atlanta überworfen, weil ihm Forschungsgelder verweigert oder weil seine Therapieansätze nicht akzeptiert worden waren. Cavanagh war eine seiner wenigen Verbündeten geblieben.

»Wie wollen wir das Ding eigentlich nennen?«, fragte Davies.

»Vorläufig einmal VFI«, antwortete Stanton. »Variante der familiären Insomnie. Aber sobald du herausgefunden hast, woher der Erreger stammt, werden wir sie Davies’ Krankheit nennen. Versprochen.«

***

Stanton hörte seine Mailbox ab. Nach einem Dutzend neuen Nachrichten, die alle mit seinen Nachforschungen zu tun hatten, hörte er endlich Ninas Stimme.