»Das ist unsere Kirche«, erklärte Chel. »Wo die Maya sich hier in Los Angeles zum Beten versammeln.«
Ein misstrauischer Ausdruck trat in Volcys Augen. »Fraternidad ist Spanisch. Ihr betet mit den ladinos?«
»Nein, nein. Die Fraternidad ist ein sicherer Ort für die indı´genas.«
»Einem ladino sage ich gar nichts!«
Chel begriff, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Fraternidad war Spanisch für »Bruderschaft«. Für die Menschen in Los Angeles war der Mix aus Spanisch, Englisch und der Maya-Sprache ganz normal. Aber da, wo Volcy herkam, stand man einer Maya-Kirche mit einem spanischen Namen misstrauisch gegenüber.
»Die Fraternidad weiß gar nichts«, fuhr Volcy mit erstaunlich fester Stimme fort. »Ich werde die ladinos nie zu Janotha und Sama führen. Du bist ajwaral!«
Es gab kein englisches Wort dafür. Wörtlich bedeutete es: »Du bist eine von hier.« Volcy wollte damit seine Verachtung zum Ausdruck bringen. Obwohl Chel aus einem kleinen Dorf stammte so wie er, obwohl sie ihr Leben dem Studium ihrer Vorfahren gewidmet hatte, würde sie für Menschen wie Volcy immer eine Außenseiterin bleiben, eine Fremde.
»Dr. Manu?«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich um. Ein Mann in einem weißen Laborkittel stand in der Tür.
»Ich bin Gabriel Stanton.«
***
Chel folgte dem Arzt an dem Sicherheitsbeamten vorbei, der ebenfalls einen Mundschutz trug, hinaus auf den Flur. Stanton sprach mit Bestimmtheit, und seine Größe verlieh ihm ein Ehrfurcht gebietendes Auftreten. Chel fragte sich, wie lange er wohl schon in der Tür gestanden hatte. Ahnte er, dass sie eine persönliche Beziehung zu diesem Patienten hatte?
Er wandte sich zu ihr um. »Mr Volcy sagt also, er sei schon krank gewesen, bevor er in die Staaten gekommen ist?«
»Ja, das hat er gesagt.«
»Wir müssen ganz sicher sein«, sagte Stanton. »Wir haben hier in L.A. nach dem Infektionsherd gesucht. Aber wenn das stimmt, was er sagt, müssen wir in Guatemala suchen. Hat er gesagt, wo genau er herkommt?«
Chel schüttelte den Kopf. »Seinem Akzent nach dürfte er aus Petén kommen. Das ist der größte Regierungsbezirk des Landes. Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen. Er will auch nicht sagen, wie er in die Staaten gekommen ist.«
»So oder so – wir können uns bei unserer Suche auf Fleisch aus Guatemala konzentrieren. Und wenn er aus einem kleinen Dorf stammt, muss es etwas sein, zu dem er Zugang hat. Soviel ich weiß, sind dort unten etliche Tausend Hektar Regenwald abgeholzt worden, um Platz für Viehherden zu schaffen. Ist das richtig?«
Stanton kannte sich offenbar gut aus, und er schien ein kluger Bursche zu sein, wenn auch etwas einschüchternd. »Für die Viehherden und Maisfelder der Weißen, die ladinos für sich arbeiten lassen«, betonte Chel. »Für die Indios bleibt nicht viel übrig.«
»Volcy könnte sich über verseuchtes Fleisch von einer dieser Rinderfarmen infiziert haben. Wir müssen unbedingt wissen, was für Fleisch er gegessen hat, bevor die ersten Symptome aufgetreten sind. Er soll sich so weit wie möglich zurückerinnern. Rind vor allem, aber auch Huhn, Schwein – alles.«
»Die Dorfbewohner können bei einer einzigen Mahlzeit Fleisch von einem halben Dutzend verschiedener Tiere essen«, gab Chel zu bedenken.
Stanton betrachtete sie nachdenklich. Seine Brille war ein bisschen verbogen, wie ihr jetzt auffiel, und sie verspürte den unerklärlichen Drang, sie geradezubiegen. Er war mindestens dreißig Zentimeter größer als sie, und sie musste sich regelrecht den Kopf verrenken, um zu ihm aufzublicken. Das war etwas, was sie an Patrick gemocht hatte – dass er eher klein war für einen Weißen.
»Er muss sich unbedingt erinnern, er soll sich anstrengen, sagen Sie ihm das«, sagte Stanton.
»Ich tue, was ich kann.«
»Hat er gesagt, warum er hierhergekommen ist? Sucht er Arbeit?«
»Ich weiß es nicht, er hat nichts gesagt«, log sie. »Er ist immer wieder kurz bewusstlos geworden und hat gar nicht richtig geantwortet auf meine Fragen.«
Stanton nickte. »Das ist nicht ungewöhnlich für Patienten, die an Insomnie leiden.« Sie gingen ins Krankenzimmer zurück. »Versuchen wir es anders.«
Volcy hatte die Augen geschlossen, sein Atem ging schwer und keuchend. Chel war nervös. Sie fragte sich, wie er reagieren würde, wenn er sie sah, und für den Bruchteil einer Sekunde war sie drauf und dran, Stanton die Wahrheit über die Handschrift und über Volcys Rolle dabei zu erzählen.
Doch sie tat es nicht. Sie fürchtete, die Einwanderungs- und Zollbehörde oder das Museum könnten Wind davon bekommen. Und dann würde sie vielleicht nicht nur alles verlieren, wofür sie so hart gearbeitet hatte, sondern auch den Maya-Kodex.
»Von Alzheimer-Patienten wissen wir, dass Menschen mit so einer Hirnschädigung oft besser auf Fragen reagieren, wenn bestimmte Schlüsselwörter vorkommen«, fuhr Stanton fort. »Das Entscheidende ist, dass man immer einen Schritt nach dem anderen macht und sie von Frage zu Frage führt.«
Volcy schlug die Augen auf. Er sah erst Stanton an und richtete den Blick dann auf Chel. Sie betrachtete sein Gesicht prüfend. Doch es lag keine Feindseligkeit in seinem Ausdruck.
»Fangen Sie mit seinem Namen an«, forderte Stanton sie auf.
»Wir kennen seinen Namen doch.«
»Genau. Sagen Sie ihm: Dein Name ist Volcy.«
Chel wandte sich dem Patienten zu. »A bi’ Volcy.«
Als er nicht antwortete, versuchte sie es erneut: »A bi’ Volcy.«
»Nu bi’ Volcy«, sagte er schließlich. Mein Name ist Volcy. Seine Stimme klang ganz normal, ohne jede Spur von Aggressivität. Als hätte er die Sache mit der Fraternidad völlig vergessen.
»Er hat mich verstanden«, flüsterte Chel.
Stanton nickte. »Und jetzt fragen Sie ihn: Haben deine Eltern dich Volcy genannt?«
»Meine Eltern haben mich den Wagemutigen genannt«, lautete die Antwort.
»Nur weiter«, ermunterte Stanton sie. »Fragen Sie ihn, warum.«
Chel tat es. Und stellte erstaunt fest, dass Volcys Augen mit jeder Frage und mit jeder Antwort klarer wurden und dass sein Blick sich immer mehr schärfte.
»Warum haben sie dich den Wagemutigen genannt?«
»Weil ich immer Dinge gewagt habe, die kein anderer Junge gewagt hat.«
»Was war das?«
»Furchtlos durch den Dschungel streifen.«
»Wenn du als Junge furchtlos durch den Dschungel gestreift bist, wie hast du da überlebt?«
»Ich habe durch den Willen der Götter überlebt.«
»Die Götter haben dich als Junge im Dschungel beschützt?«
»Sie haben mich beschützt, bis ich sie als erwachsener Mann beleidigt habe.«
»Was ist passiert, nachdem sie dich als erwachsenen Mann nicht mehr beschützt haben?«
»Sie haben mich im Dschungel nicht mehr auf die andere Seite gelassen.«
»Die andere Seite? Du meinst, in den Traumzustand?«
»Sie haben nicht zugelassen, dass meine Seele sich ausruhen oder in der Geistwelt Kraft sammeln konnte.«
Chel unterbrach das Frage-und-Antwort-Spiel. Sie musste sichergehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte. Sie beugte sich näher zu ihm hinunter und sagte: »Volcy. Du konntest nicht mehr in den Traumzustand hinüberwechseln, seit du im Dschungel warst? Seit du das alte Buch gefunden hast?«
Er nickte.
»Was ist?«, fragte Stanton. »Was sagt er?«
Chel achtete nicht auf ihn. Sie musste es wissen. Unbedingt. »Wo im Dschungel war dieser Tempel?«
Doch Volcy verfiel wieder in Schweigen.
Stanton wartete ungeduldig. »Warum antwortet er nicht mehr? Was haben Sie zu ihm gesagt?«