Stanton ging zur Tür. »Dann bis morgen, Monster. Falls wir dann noch da sind.«
Draußen stürzte er seinen Black Gold hinunter, schwang sich dann wieder auf sein Rad und fuhr, Dogma neben sich, weiter in Richtung Süden. Vor hundert Jahren schlängelten sich Kanäle mit einer Gesamtlänge von mehreren Meilen durch Venice, eine von dem Tabakmagnaten Abbot Kinney geschaffene Nachbildung Venedigs. Inzwischen waren praktisch alle Wasserwege, auf denen sich die Einwohner früher mit Kähnen hatten befördern lassen, zugeschüttet worden und gepflastert mit anabolikabetriebenen Fitnessstudios, mit auf fetttriefende Snacks spezialisierten Imbissbuden und mit trendigen T-Shirt-Läden.
Stanton hatte mit Bedauern beobachtet, wie in den vergangenen Wochen überall Graffiti aufgetaucht waren, die sich auf die vermeintliche Maya-Prophezeiung der bevorstehenden Apokalypse bezogen. Auch Händler nutzten die Gunst der Stunde und boten allen möglichen Billigkram an. Stanton war katholisch erzogen worden, aber er hatte seit Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen, und er hatte auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Wenn jemand meinte, sein Schicksal ergründen zu können, oder glaubte, irgendeine antike Uhr bringe Glück oder Unglück, dann sollte er das ruhig tun; Stanton hatte nichts dagegen. Er würde sich weiterhin an wissenschaftliche Methoden und überprüfbare Hypothesen halten.
Zum Glück schienen aber nicht alle in Venice damit zu rechnen, dass am 21. Dezember die Welt untergehen würde. Die Strandpromenade war auch mit roten und grünen Lämpchen geschmückt – nur für den Fall, dass diese Weltuntergangsspinner sich irrten. Die Weihnachtszeit war eine merkwürdige Zeit in L.A.: Nur wenige Zugereiste kamen damit klar, Weihnachten bei gut 20 Grad Wärme zu feiern, aber Stanton liebte den Kontrast: Rollschuhfahrer mit Nikolausmützen, Sonnenschutzcreme in Weihnachtsstrümpfen, mit falschen Rentiergeweihen geschmückte Surfbretter. Nichts konnte ihn heutzutage besser in Weihnachtsstimmung versetzen als eine Fahrt am Strand entlang.
Zehn Minuten später erreichten sie das nördliche Ende von Marina del Rey. Ihr Weg führte vorbei am alten Leuchtturm und an den Segeljachten und den vertäuten Fischerbooten, die im Hafen dümpelten. Stanton ließ Dogma von der Leine, und der Hund rannte voraus, während sein Herrchen sein Fahrrad schob und hinterhertrottete. Er lauschte. Die Frau, deretwegen sie hier waren, umgab sich zu jeder Tageszeit mit Jazz, und wenn man Bill Evans’ Piano oder Miles Davis’ Trompete hörte, wusste man, dass sie nicht weit sein konnte. Nina Countner war den größten Teil der letzten zehn Jahre die Frau in Stantons Leben gewesen. Zwar hatte es in den drei Jahren seit ihrer Trennung ein paar andere bei ihm gegeben, aber keine, die mehr als ein Ersatz für sie gewesen wäre.
Stanton folgte Dogma zu den Anlegestellen. Die schwermütigen Klänge eines Saxofons wehten aus der Ferne zu ihm herüber. Der Hund hatte schon die Spitze der südlichen Mole erreicht, wo Ninas wuchtige zweimotorige McGray – knappe sieben urwüchsige Meter Metall und Holz – sich ganz hinten in den letzten Liegeplatz quetschte. Dogma hatte sich auf die Seite gelegt und ließ sich von Nina, die neben ihm in die Hocke gegangen war, den Bauch kraulen.
»Wie ich sehe, habt ihr zwei mich gefunden«, rief sie.
»Ja, und zur Abwechslung direkt mal in einem richtigen Hafen«, erwiderte Stanton.
Er küsste sie auf die Wange und atmete ihren Duft ein. Obwohl Nina fast die ganze Zeit auf dem Meer verbrachte, schaffte sie es, immer nach Rosenwasser zu duften. Stanton trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. Sie hatte ein Grübchen am Kinn und auffallend schöne grüne Augen, aber ihre Nase war ein kleines bisschen krumm und ihr Mund ziemlich klein. Die meisten Menschen bemerkten ihre Schönheit nicht, aber Stanton fand, dass ihr Gesicht perfekt war.
»Wann erlaubst du mir endlich, dass ich dir eine richtige Anlegestelle besorge?«, fragte er.
Ninas Blick sagte alles. Stanton hatte ihr schon oft angeboten, die Miete für einen ständigen Liegeplatz für ihr Boot zu übernehmen, immer in der Hoffnung, sie damit öfter an Land zurückzulocken, aber Nina hatte jedes Mal abgelehnt, und er wusste, dass sich daran vermutlich nichts ändern würde. Sie arbeitete freiberuflich als Journalistin, und da sie nicht über ein regelmäßiges Einkommen verfügte, war sie eine wahre Meisterin darin geworden, freie Liegeplätze, abgelegene Strände und von keinem Radar erfasste Anlegestellen aufzuspüren, die nur wenigen bekannt waren.
»Wie geht’s voran mit deinem Experiment?«, fragte sie, als sie vor Stanton an Bord ging. Das Deck der Plan A war spärlich ausgestattet: zwei Klappstühle, eine Sammlung von CDs, die rings um den Kapitänsstuhl verstreut lagen, und ein Wasser- und ein Futternapf für Dogma.
»Ich erwarte für heute weitere Ergebnisse«, antwortete er. »Dürfte interessant werden.«
Nina setzte sich auf den Platz des Skippers. Wie üblich kam sie gleich zur Sache. »Du siehst müde aus.«
Er fragte sich, ob es die unaufhaltsam vordringende Flut des Alters war, die sie auf seinem Gesicht entdeckte, die Krähenfüße hinter den Gläsern seiner randlosen Brille. Er hatte vergangene Nacht volle sieben Stunden geschlafen. Das kam selten vor. »Mir geht’s gut.«
»Und der Prozess? Ist er endgültig ausgestanden?«
»Schon seit Wochen. Das sollten wir feiern. Ich hab noch eine Flasche Champagner im Kühlschrank.«
»Ach, weißt du, ich will rüber nach Catalina.« Nina betätigte ein paar Hebel und Schalter, um das GPS und die Schiffselektronik einzuschalten. Stanton hatte sich nie die Mühe gemacht, sich mit der Steuerungsanlage vertraut zu machen.
Durch den Dunst hindurch konnte man die vagen Umrisse von Catalina Island erkennen. »Und wenn ich mitkommen würde?«, fragte Stanton.
»Um dann geduldig auf die Ergebnisse aus dem Forschungszentrum zu warten? Ich bitte dich, Gabe.«
»Behandle mich nicht wie ein kleines Kind.«
Nina stand auf, ging zu ihm und fasste ihn am Kinn. »Ich bin nicht umsonst deine Exfrau.«
Es war Nina gewesen, die diese Entscheidung getroffen hatte, aber Stanton gab sich die Schuld am Scheitern ihrer Ehe, und etwas in ihm hoffte immer noch auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr. Während ihrer drei Jahre dauernden Ehe hatte sein Beruf ihn oft monatelang ins Ausland geführt, und Nina hatte sich unterdessen aufs Meer hinausgeflüchtet. Der Ozean war schon immer ihre große Liebe gewesen. Stanton hatte sie ziehen lassen, und es hatte den Anschein, als wäre sie so am glücklichsten – ganz allein durchs Leben treibend.
In der Ferne heulte die Sirene eines Containerschiffs, und Dogma begann wie verrückt zu bellen und jagte dann seinem eigenen Schwanz hinterher.
»Ich bring ihn dir morgen Abend wieder«, sagte Nina.
»Bleib doch zum Essen«, schlug Stanton vor. »Sag mir, worauf du Lust hast, ich koche für dich.«
Nina sah ihn skeptisch an. »Und was wird deine Freundin dazu sagen?«
»Ich habe keine Freundin.«
»Was ist denn mit Wie-hieß-sie-doch-gleich passiert? Mit der Mathematikerin.«
»Wir sind vier Mal zusammen ausgegangen.«
»Und?«
»Und dann musste ich mir ein Pferd ansehen.«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch. Ich bin nach England geflogen, weil bei dem Pferd der Verdacht auf Scrapie bestand, und da meinte sie, mir liegt nichts an unserer Beziehung.«
»Und, hat sie recht gehabt?«
»Wir sind vier Mal zusammen ausgegangen! Also, was ist jetzt mit dem Abendessen morgen?«
Nina ließ den Motor genau in dem Moment an, als Stanton auf die Anlegebrücke sprang, wo er sein Fahrrad abgestellt hatte. »Besorg eine anständige Flasche Wein«, rief sie ihm zu, während sie ablegte und ihn wieder einmal zurückließ. »Dann sehen wir weiter …«
***
Das Zentrum für Prionenforschung des Seuchenzentrums CDC in Boyle Heights war seit fast zehn Jahren Stantons berufliche Heimat. Als er 2000 hierher gezogen war, um die Stelle als Direktor anzutreten, dem ersten überhaupt, hatte das Zentrum nur aus einem kleinen Labor in einem Wohnwagen bestanden, der auf dem Gelände des Los Angeles County & USC Medical Center aufgestellt worden war. Unermüdlich hatte Stanton für die Erweiterung des Forschungszentrums gekämpft, und heute nahm es den ganzen sechsten Stock des Hauptgebäudes des Krankenhauses ein, desselben Gebäudes, das über drei Jahrzehnte lang als Kulisse für die Fernsehserie General Hospital gedient hatte.