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Ziemlich weit unten auf der Liste fand Stanton, was er suchte. Er rannte zurück zu Abteil Nr. 14 und riss den Vorhang auf. Schwestern huschten geschäftig hin und her, Ärzte erteilten mit lauter Stimme knappe Anweisungen. Der Mann auf dem Bett war blutüberströmt und krümmte sich vor Schmerzen.

»Ich muss unbedingt mit diesem Mann reden.« Stanton zückte seinen CDC-Ausweis.

Ärzte und Schwestern blickten verwirrt drein, traten dann aber zur Seite, um ihm Platz zu machen.

Stanton beugte sich zu dem Patienten hinunter und fragte leise: »Sir, leiden Sie in letzter Zeit an Schlafstörungen?«

Keine Antwort.

»Sind Sie in letzter Zeit krank gewesen, Sir?«

Ein Monitor begann laut zu piepsen. »Der Blutdruck fällt«, sagte eine der Krankenschwestern warnend.

Ein Notarzt schob Stanton energisch zur Seite und erhöhte die intravenöse Medikamentengabe. Alle starrten auf den Monitor. Der Blutdruck fiel weiter ab, die Herztätigkeit verlangsamte sich.

»Notfallwagen!«, schrie ein anderer Arzt.

»Sir!«, rief Stanton über die anderen hinweg. »Wie heißen Sie?«

»Ernesto sah aus wie er«, stöhnte der Mann. »Ich wollte ihn nicht schlagen …«

»Bitte«, rief Stanton noch einmal, »Ihren Namen!«

Die Augen des Mannes flackerten. »Ich dachte, Ernesto wäre der Vogelmann. Der Vogelmann hat mir das angetan.«

Stanton spürte, wie es ihm bei diesen Worten kalt über den Rücken lief. »Der Vogelmann«, wiederholte er. »Wer ist der Vogelmann?«

Der Schwerverletzte stieß einen lang gezogenen Seufzer aus. Die weitere Abfolge der Ereignisse war wie ein Déjà-vu: Nulllinie, scharfe Befehle, Notfallwagen, Defibrillator, Injektionen, laute, aufgeregte Stimmen. Dann Stille. Und der Todeszeitpunkt.

***

Chel saß in ihrem Büro im Museum und rauchte die letzte Zigarette aus der Schachtel. Sie hatte noch nie jemanden sterben sehen. Der Anblick des todgeweihten Volcy, der vergebliche Kampf um sein Leben, hatte sie so erschüttert, dass sie aus dem Krankenhaus gelaufen war, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Seit Stunden saß sie einfach nur da, starrte dumpf auf ihren Computermonitor und rief immer wieder die aktualisierten Seiten auf. Sie ging nicht ans Telefon, nahm auch die Anrufe aus dem Krankenhaus, darunter zwei von Stanton, nicht entgegen.

Obwohl das Seuchenzentrum wusste, dass Volcy sich vegetarisch ernährt hatte, konzentrierten die Medien ihre Berichterstattung immer noch auf verseuchtes Fleisch als Infektionsherd. In den Blogs jagten sich die Beiträge über das Ende des Maya-Kalenders und hirnrissige Vermutungen darüber, dass es unmöglich ein Zufall sein konnte, dass nur eine Woche vor dem 21. Dezember eine neue Variante des Rinderwahnsinns ein erstes Opfer gefordert hatte.

Ein leises Klopfen an der Tür, dann wurde sie einen Spaltbreit geöffnet, und Rolando Chacon steckte den Kopf herein. »Hast du eine Minute Zeit?«

Chel winkte ihn herein. Er hatte sie nicht verurteilt, als sie ihm von ihrem Besuch im Krankenhaus erzählt hatte und dass sie die Ärzte belogen hatte über die wahren Gründe, warum Volcy in die Staaten gekommen war.

»Wie geht’s dir?«, fragte Rolando und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber.

Chel zuckte mit den Schultern.

»Willst du nicht nach Hause und ein bisschen schlafen?«

»Nicht nötig, mir geht’s gut«, antwortete sie. »Hast du was für mich?«

»Die Ergebnisse der C-14-Datierung sind da: 930 plus/minus 150 Jahre. Wie wir vermutet haben. Ende der klassischen Periode.«

Eigentlich hätte das ein Grund zum Jubeln sein müssen. Das war der lang ersehnte Beweis.

»Das ist eine großartige Nachricht«, murmelte Chel dumpf. Es war die Bestätigung ihrer langjährigen Forschungsarbeiten, und der Kodex könnte ihnen ein tieferes Verständnis der Geschichte ihres Volkes erschließen. Aber in diesem Moment empfand Chel gar nichts.

»Ich bin auch mit der Rekonstruktion des Textes weitergekommen«, fuhr Rolando fort. »Aber es gibt da ein Problem.« Er gab Chel einen Zettel, auf den er zwei Symbole gezeichnet hatte:

In der antiken Maya-Sprache wurden sie chit und unen ausgesprochen. »Ein Vater und ein männliches Kind des Vaters«, sagte Chel abwesend. »Ein Vater und sein Sohn.«

»Der Schreiber verwendet sie aber nicht in dieser Bedeutung.« Rolando gab ihr einen zweiten Zettel. »Das ist eine grobe Übersetzung des zweiten Absatzes.«

Der Vater und sein Sohn ist nicht adlig von Geburt, deshalb gibt es vieles, das dem Vater und seinem Sohn verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das der Vater und sein Sohn nicht hört von den Worten, die die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden.

»Er bezieht sich offenbar auf einen einzigen Menschen«, sagte Rolando. »Auf einen Adligen. Einen König. Oder so etwas Ähnliches. Jedenfalls findet sich dieses Symbolpaar in der ganzen Handschrift.«

Chel betrachtete die Glyphen genauer. Es war nicht ungewöhnlich, dass Wortpaare zur stilistischen Ausschmückung in einer anderen als der wörtlichen Bedeutung verwendet wurden. Chel vermutete, dass das auch hier der Fall war.

»Kann das etwas damit zu tun haben, dass Adelstitel vom Vater auf den Sohn vererbt werden?«, fragte Rolando. »Ein patrilineares Verwandtschaftssystem?«

Chel bezweifelte das zwar, aber sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. »Lass mir ein bisschen Zeit, ich muss mir das noch mal genauer ansehen.«

Rolando beugte sich vor und tippte mit dem Zeigefinger auf ihren Schreibtisch. »Ich weiß, du hörst das nicht gern, und ich kann deine Bedenken auch verstehen. Wirklich. Aber hier geht es um die Syntax, und auf diesem Gebiet ist Victor nun mal der Beste. Er könnte uns ein großes Stück weiterhelfen. Findest du nicht, dass das wichtiger ist als eure persönlichen Differenzen?«

»Wir schaffen das auch allein«, erwiderte Chel störrisch.

»Solange wir nicht wissen, was diese Kombination zu bedeuten hat, kommen wir nicht weiter«, wandte Rolando ein. »Allein auf der ersten Seite kommt sie nach dem ersten Absatz zehn Mal vor. Weiter hinten bis zu zwölf Mal auf einer einzigen Seite.«

»Ich werde daran arbeiten«, sagte Chel mit Nachdruck. »Danke«, fügte sie hinzu.

Rolando nickte und ging zurück ins Labor, und Chel wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Als sie die Homepage der Los Angeles Times aufrief, fand sie neue Artikel über Volcy und das Presbyterian Hospital. Aber noch etwas anderes erregte ihre Aufmerksamkeit: schockierende Fotos von einer grauenhaften Massenkarambolage auf der Schnellstraße 101 mit brennenden, ineinander verkeilten Fahrzeugwracks, aus denen Menschen geborgen wurden.

Und mitten in dem rauchenden Trümmerfelds sah man einen grünen Geländewagen.

***

Stanton und Davies standen in der Leichenhalle im Keller des Krankenhauses bei den zwei Edelstahltischen, auf denen die Leichen des Unfallfahrers und Volcys lagen.

Davies trat an den Tisch mit dem Unfallfahrer. Nachdem er einen Schnitt über den Schädel von einem Ohr zum anderen ausgeführt und die Haut zurückgeklappt hatte, entfernte er die Schädeldecke und legte das Gehirn frei.

»Fertig«, sagte er.

Stanton durchtrennte die Hirnrinde und das Rückenmark, griff dann in die Hirnschale und nahm das Gehirn heraus, wobei er versuchte zu ignorieren, dass es noch warm war. Irgendwo in den Windungen dieses Organs hoffte er, Aufschluss über VFI zu finden. Er legte das Hirn auf einen sterilen Tisch.

Als sie es seziert und einen ersten Blick auf den Thalamus geworfen hatten, bemerkte Stanton das löchrige Gewebe. Unter dem Mikroskop glich es einer Kraterlandschaft. FFI wie aus dem Lehrbuch. Nur sehr viel aggressiver.