»Weil die Handschrift geraubt wurde und der Besitz strafbar ist. Aber da ist noch etwas, was Sie wissen sollten.«
»Was?«
»Ich glaube, der Fahrer des grünen Geländewagens, der den schweren Unfall auf der 101 verursacht hat, ist der Mann, von dem ich die Handschrift bekommen habe. Er heißt Hector Gutierrez. Er handelt mit antiken Kunstgegenständen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass er es war?«
»Ich habe gesehen, wie er in genau so einem Wagen von meiner Kirche weggefahren ist.«
»Großer Gott«, murmelte Stanton. »War dieser Gutierrez krank, als er bei Ihnen war?«
»Eigentlich hat er nur sehr nervös auf mich gewirkt, aber ich kann mich auch täuschen.«
Stanton dachte über diese Informationen nach. »Ist Gutierrez je in Guatemala gewesen?«
»Keine Ahnung. Gut möglich.«
Ein Gedanke durchzuckte Stanton. »Augenblick mal. Sie sagten, Volcy sei schon krank gewesen, bevor er hierherkam. War das auch gelogen?«
Chel schüttelte den Kopf. »Nein, das hat er mir erzählt. Aber er war nicht im Dschungel, um zu meditieren«, fuhr sie kleinlaut fort. »Er hatte die Überreste eines Tempels entdeckt und das Buch von dort gestohlen. Und da, in der Nähe des Tempels, haben auch seine Schlafstörungen angefangen. Aber dass er ein Jahr lang kein Fleisch gegessen hat, das stimmt.«
Stanton war außer sich vor Wut. »Die guatemaltekischen Behörden haben aufgrund Ihrer Informationen Teams losgeschickt, die jede Milchfarm in Petén überprüfen. Sie halten das Ganze jetzt schon für reine Zeit-und Geldverschwendung. Und jetzt müssen wir ihnen sagen, dass unsere Dolmetscherin uns leider belogen hat und sie stattdessen doch bitteschön im Dschungel nach Ruinen suchen sollen?«
Ein Skateboardfahrer, der auf der Promenade vorbeirollte, rief ihm zu: »Entspann dich, Bruder!«
»Ich werde der Einwanderungsbehörde alles erzählen«, flüsterte Chel, als der Jugendliche außer Hörweite war.
»Scheiß auf die Behörden! Hier geht es um die öffentliche Sicherheit! Wenn Sie uns nicht angelogen hätten, hätten wir dem Mann noch mehr Fragen stellen können, und wir könnten den Dschungel jetzt auf der Suche nach dem wahren Infektionsherd durchkämmen!«
Chel fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar. »Ja, das ist mir jetzt auch klar.«
Stanton atmete tief durch. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, fragte er: »Was hat er Ihnen sonst noch erzählt?«
»Er hat gesagt, der Tempel sei einen Dreitagesmarsch von seinem Dorf in Petén entfernt. Also wahrscheinlich weniger als hundert Meilen.«
»Wo genau liegt sein Dorf?«
Die Meeresbrise wehte Chel ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. »Das hat er nicht gesagt.«
»Also müssen wir den Infektionsherd wahrscheinlich in der Nähe dieser Ruinen suchen. Irgendeine kranke Kuh, deren Milch weiß Gott wohin transportiert wird. Der Erreger könnte sogar ins Trinkwasser gelangen. Was wissen wir denn schon?« Stanton schwieg einen Augenblick. »Hat er irgendeine Andeutung gemacht, die uns weiterhelfen könnte? Irgendetwas?«
Chel schüttelte den Kopf. »Er hat mir nur noch erzählt, dass sein Krafttier ein Falke ist und dass er eine Frau und eine Tochter hat.«
»Was ist ein Krafttier?«
»Jedem Maya wird bei seiner Geburt ein Tier zugeordnet. Seines ist Chuyum-thul, hat er gesagt. Der Falke.«
Stanton sah den sterbenden Gutierrez in der Notaufnahme vor sich. »Gutierrez hat gesagt: ›Der Vogelmann hat mir das angetan.‹ Ich glaube, er hat Volcy die Schuld gegeben, dass er krank geworden ist.«
»Warum sollte er das tun?«
»Vielleicht hat Volcy irgendein Nahrungsmittel über die Grenze mitgebracht, ohne zu ahnen, dass es das war, was ihn krank gemacht hat.«
»Und was könnte das sein?«
»Sagen Sie’s mir«, erwiderte Stanton. »Was würde ein Maya jemandem geben, mit dem er Geschäfte macht? Was könnte Gutierrez gegessen oder getrunken haben, das Milch oder ein verwandtes Produkt enthält?«
»Da gibt es viele Möglichkeiten«, meinte sie nachdenklich.
Stanton sprang auf. »Wir treffen uns hinter dem Haus bei meinem Auto«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und stieß die Haustür auf.
»Wieso?«
»Weil wir das herausfinden werden, bevor Sie zur Polizei gehen.«
11
Selbst jetzt, als sie neben Stanton im Auto saß, konnte Chel an nichts anderes denken als an die alte Handschrift und daran, dass sie sie wahrscheinlich nie wiedersehen und dass sie nie die Gelegenheit bekommen würde, herauszufinden, wer der Schreiber war und warum er sich seinem König widersetzt und damit sein Leben riskiert hatte. Was sagte das über sie aus? Was sagte es über sie aus, dass sie sich selbst jetzt noch auf die falschen Dinge im Leben konzentrierte? Stanton strafte sie mit Verachtung. Er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Krankheiten zu erforschen und sie zu bekämpfen, und sie hatte durch ihre kleine akademische Übung die ganze Stadt in Gefahr gebracht.
Merkwürdigerweise war es Patricks Stimme, die sie jetzt in ihrem Kopf hören konnte. Sie waren zu einer Konferenz über die Erfassung und Auswertung der Maya-Glyphen nach Charlottesville in Virginia gefahren und hatten anschließend eine Wanderung über den Appalachian Trail geplant. Doch dann bekam Chel den Vorsitz in einem weiteren Gremium angeboten. Sie sagte zu, und die Wanderung musste ausfallen. »Irgendwann wirst du erkennen, dass du viel zu große Opfer für deine Arbeit gebracht hast, aber dann ist es zu spät«, hatte Patrick zu ihr gesagt. Damals hatte Chel gedacht, er habe das aus Trotz gesagt und es werde sich schon wieder einrenken, so wie all die Male zuvor. Aber vier Wochen später war er ausgezogen.
Chel rutschte auf dem Beifahrersitz herum. Irgendetwas blieb an ihrem Absatz hängen. Sie bückte sich: eine Hundeleine. Dem Halsband nach zu schließen war es kein kleiner Hund.
»Werfen Sie sie nach hinten«, sagte Stanton, doch es schwang keine Wärme in seiner Stimme mit. Es war das erste Mal, dass er etwas sagte, seit sie ins Auto gestiegen waren, um Richtung Süden zu fahren. Chel sah verstohlen zu ihm hinüber. Er hatte beide Hände am Lenkrad wie ein Fahrschüler. Wahrscheinlich gehörte er zu den Leuten, die nie gegen irgendwelche Regeln verstießen. Er machte einen strengen, ernsten Eindruck auf sie, und sie fragte sich, ob er wirklich so einsam war, wie er wirkte. Aber andererseits hatte er wenigstens einen Hund. Chel starrte durch die Windschutzscheibe auf den von Reklametafeln gesäumten Pacific Coast Highway hinaus. Vielleicht würde sie sich auch ein Haustier anschaffen, wenn sie ihre Stelle im Museum verlor und mehr Freizeit hätte.
»Geben Sie sie her«, forderte Stanton sie barsch auf.
Sie schrak zusammen. »Was?« Dann merkte sie, dass sie die Leine immer noch in der Hand hielt. Stanton nahm sie ihr ab, warf sie nach hinten auf die Rückbank und trat das Gaspedal weiter durch.
Chel hatte sich daran erinnert, dass Hector Gutierrez in Inglewood, nördlich des Flughafens, wohnte. Sie wusste nicht, worauf sie sich einstellen sollte, als sie vor dem zweigeschossigen Haus hielten. Vielleicht wusste Gutierrez’ Familie noch gar nicht, was passiert war; bis jetzt hatte sich noch niemand gemeldet, um ihn zu identifizieren.
Stanton stellte den Motor ab. »Gehen wir.«
Er klopfte an die Haustür. Eine Minute später ging drinnen ein Licht an. Die Frau, die ihnen öffnete, eine Latina mit pechschwarzen Haaren, trug einen langen marineblauen Morgenmantel. Ihre Augen waren ganz verquollen, so als hätte sie geweint. Sie wusste also schon Bescheid. Und Chel verstand auch, warum sie sich nicht bei den Behörden gemeldet hatte: Die Frau hatte nicht nur ihren Ehemann verloren, sie würde auch alles andere verlieren, wenn die Einwanderungs- und Zollbehörde und das FBI hinter Gutierrez’ illegalen Handel mit Antiquitäten kamen. Einnahmen aus Schwarzmarktgeschäften wurden unbarmherzig beschlagnahmt.