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Jiao Chen nahm ihre Brille ab und rieb sich müde die Augen. »Vielleicht haben wir mit den Präparaten etwas falsch gemacht.«

Jiao hatte neben Stanton am wenigsten geschlafen. Stanton sah, wie sie mit den Fingerspitzen kleine kreisende Bewegungen auf den Lidern vollführte und dann die Handflächen auf ihr von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht legte und langsam über die Wangen nach unten gleiten ließ.

Ein Gedanke durchzuckte ihn. Er schnappte das Telefon und rief aufgeregt hinein: »Emily, es sind die Augen!«

***

Krankheitserreger, die durch die Augen übertragen wurden, waren so selten, dass selbst Chirurgen bei Operationen oft auf Schutzbrillen verzichteten. Als Stanton und sein Team jetzt aber die Tränenflüssigkeit der beiden Opfer untersuchten, fanden sie Prionen in einer ähnlich hohen Konzentration wie im Hirngewebe.

Die Übertragung begann, wenn ein an VFI Erkrankter sich an die Augen fasste. Das Prion gelangte an seine Hände; dann schüttelte er jemandem die Hand oder berührte eine Oberfläche, die wiederum von jemandem angefasst wurde, und schon begann der Kreislauf. Ein Mensch fasste sich über hundert Mal am Tag ins Gesicht, und durch die Schlaflosigkeit wurde alles noch schlimmer: Je müder ein Infizierter wurde, desto öfter gähnte er und rieb sich die Augen. Bei jemandem, der rund um die Uhr wach war, hatte die Krankheit acht Stunden zusätzlich, um sich auszubreiten. So wie bei einer normalen Erkältung die Nase lief und die Erreger dann durch Schleim weiter übertragen wurden, so wie Malaria Müdigkeit verursachte und so noch mehr Moskitos über ihre schlafenden Opfer herfallen und deren Blut saugen konnten, so hatte sich auch VFI den idealen Krankheitsüberträger selbst geschaffen.

***

Das Seuchenzentrum setzte sich mit jedem in Verbindung, der Kontakt zu Volcy, Gutierrez oder Zarrow gehabt haben könnte, und das Ergebnis war beängstigend. Eine Stewardess, zwei Copiloten, zwei Passagiere der Aero Globale sowie der Besitzer des Super-8-Motels und drei Gäste waren die ersten Opfer der zweiten Welle.

Um die Mittagszeit fiel zum ersten Mal das Wort Epidemie.

Die schlimmste Nachricht erreichte sie aus dem Presbyterian Hospital. Sechs Schwestern, zwei Ärzte aus der Notaufnahme und drei Pfleger litten seit zwei Nächten an Schlaflosigkeit. Es stellte sich heraus, dass ein vor Jahren entwickelter Test zum Nachweis von Prionen im Blut von Schafen als grober Indikator von VFI dienen konnte noch vor dem Auftreten der ersten Symptome. Schon mehrere untersuchte Blutproben waren positiv.

Stanton wurde von Schuldgefühlen gequält, weil er erst so spät erkannt hatte, dass das Prion ansteckend war. Und er hatte Angst, dass er sich selbst infiziert hatte. Das Ergebnis seines Bluttests stand noch aus, aber man ließ ihn unter der Bedingung, dass er ständig einen Schutzanzug trug, weiter seine Arbeit machen. Seit der vergangenen Nacht hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich überhaupt zum Schlafen hinzulegen.

Als Stanton zum Presbyterian zurückkam, musste er sich in seinem luftdichten gelben Schutzanzug schwitzend und schwerfällig durch die Massen verzweifelter Menschen kämpfen, die in die Notaufnahme drängten. Über hundert Personen wurden aufgrund ihrer Symptome bereits zu den möglicherweise Infizierten gerechnet, und die Panik, die Cavanagh prophezeit hatte, war nach der Pressekonferenz des Seuchenzentrums tatsächlich ausgebrochen. Normalerweise litt jeder dritte erwachsene Amerikaner an Schlaflosigkeit. Jetzt stürmten Tausende in Los Angeles sämtliche Krankenhäuser der Stadt, weil sie überzeugt waren, sie hätten sich angesteckt.

»Es tut mir leid, dass Sie so lange warten müssen«, wandte sich ein Beamter des Seuchenzentrums an die achtzig Personen, die Primärkontakt hatten. »Die Ärzte arbeiten so schnell sie können; das Ergebnis der Blutuntersuchungen liegt in Kürze vor. Bitte behalten Sie bis dahin Ihre Masken und Ihren Augenschutz auf. Achten Sie darauf, dass Sie auf keinen Fall Ihre Augen oder Ihr Gesicht berühren.«

Während Stanton sich den Weg durch die Notaufnahme bahnte, nagte in einem fort der Gedanke an ihm, dass er, Thane und Chel Manu direkteren Kontakt zu den Infizierten gehabt hatten als irgendjemand sonst hier.

»Ich kann so gut wie nie schlafen«, rief ein älterer Mann. »Wie können die da herausfinden, ob ich es habe?«

»Erzählen Sie den Ärzten alles über Ihr normales Schlafverhalten«, erwiderte der Beamte vom CDC. »Und alles, was sonst noch wichtig sein könnte.«

»Hier wimmelt es doch nur so von Keimen«, sagte eine Latina mit einem Baby auf dem Arm. »Wenn wir bis jetzt noch nicht krank sind, dann werden wir es hier!«

»Nehmen Sie den Augenschutz auf keinen Fall ab«, riet der Mann vom CDC. »Berühren Sie Ihre Augen nicht und fassen Sie auch sonst nichts an, dann kann Ihnen nichts passieren.«

Die Schutzbrillen spielten eine wichtige Rolle bei der Eindämmung der Krankheit. Das CDC riet aber vorsichtshalber auch zu einem Mundschutz. Doch Stanton hielt beide Maßnahmen für unzureichend. Er hatte eine E-Mail an sämtliche Abteilungen des CDC geschickt, in der er sich dafür aussprach, die Öffentlichkeit lückenlos aufzuklären, eine achtundvierzigstündige Ausgangssperre zu verhängen und das Tragen von Schutzbrillen in allen Schulen der Stadt zur Pflicht zu machen, bis es ihnen gelungen wäre, die Ausbreitung des Erregers einzudämmen.

Stanton ging weiter zur provisorischen Koordinierungsstelle des CDC im hinteren Teil des Krankenhauses. Bestimmungen des Gesundheitsministeriums hingen an jeder Wand, wo sie die abblätternde Farbe überdeckten. Mehr als dreißig Beamte des Epidemic Intelligence Service, Verwaltungsangestellte und außerdem Krankenschwestern vom CDC hatten sich in dem kleinen Besprechungsraum versammelt, und alle trugen Mund- und Augenschutz. Stanton war der Einzige in einem luftdichten Schutzanzug, was ihm besorgte bis misstrauische Blicke eintrug – jeder wusste natürlich, was diese Kleidung möglicherweise zu bedeuten hatte.

Die ranghöchsten Ärzte saßen an einem Tisch in der Mitte des Raumes. Die stellvertretende Direktorin des Seuchenzentrums, Emily Cavanagh, leitete die Besprechung. Sie hatte ihre langen weißen Haare straff nach hinten gebunden, und ihre blauen Augen hinter der Schutzbrille strahlten. Obwohl sie schon über dreißig Jahre im Dienst des CDC stand, war ihre Stirn glatt und faltenlos. Stanton dachte manchmal bei sich, dass sie vielleicht schlichtweg befohlen hatte, ihre Stirn sollte keine Falten bekommen.

»Im Lauf des Vormittags werden zweihunderttausend Schutzbrillen eintreffen. Per Flugzeug und per Lkw«, sagte Cavanagh. Stanton, in seinem plumpen Schutzanzug ein fast schon komischer Anblick, zwängte sich auf den Stuhl neben ihr.

»Und bis übermorgen bekommen wir noch einmal fünfzigtausend«, warf jemand hinter ihnen ein.

»Wir brauchen vier Millionen«, sagte Stanton in das kleine Mikrofon in seinem Helm.

»Na ja, die zweihundertfünfzigtausend, die wir kriegen werden, müssen reichen«, erwiderte Cavanagh. »Das Pflegepersonal wird als Erstes ausgestattet, das versteht sich von selbst. Dann jeder, der irgendeine Verbindung mit einem Infizierten hat, und der Rest geht an die Verteilerzentren und wird nach dem Motto ausgegeben: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das Letzte, was wir brauchen, ist eine Panik, die eine Massenflucht zur Folge hätte. Dann würde sich der Erreger bald im ganzen Land ausbreiten.«

»Wir müssen eine Quarantäne in Erwägung ziehen«, sagte Stanton.

»Was glauben Sie, was wir hier machen?«, versetzte Katherine Leeds von der Abteilung Virologie. Leeds war ein winziges Persönchen, aber eine knallharte Frau. Sie und Stanton waren im Lauf der Jahre viele Male aneinandergeraten. »Das Presbyterian steht bereits unter Quarantäne, und wir sind dabei, sie auf andere Krankenhäuser auszuweiten.«